Rezension

Mal skurrile, mal zauberhaft-poetische Liebesgeschichte in origineller Sprache

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 5 Sternen

Das Buch hat mich trotz des etwas drastischen Beginns gleich in seinen Bann gezogen, zuerst einmal wegen der originellen Sprachbilder, z.B. "Im Spiegel fischte er nach seinen Augen …" (9), "… dann klebten sie ihre Blicke in die Bücher." (10). Das sind Alltagsbeobachtungen, die jeder macht, die aber nicht jeder so originell in Worte fassen kann. Während der Zugfahrt: "Draußen wurden Weiden vorbeigespult." (13), morgens: "Als die Helligkeit endlich über die Fensterkante gekrochen kam …" 58

Dann aber geht es mitten hinein in die anfangs unglückliche Geschichte von Karl, Sohn eines berühmten Künstlerpärchens. Es geht um Eltern, die ihre Kinder abschieben und das mit pädagogischem Gefasel von 'loslassen können' begründen, in Wirklichkeit aber ein Kind ohne Liebe und Wärme in einem Internat aufwachsen lassen und in ihrer engen Zweisamkeit nicht merken, wie verloren das Kind sich fühlt. Kein Wunder, dass Karl sich später – nach dem Abitur im Internat – nicht mehr meldet.

Erst als der Vater sich erhängt hat, weil die Mutter einen Gehirntumor hat, fährt er wieder nach Leinsee, dem Ort seiner Kindheit, in die Villa, in der er früher so gerne zu Hause gewesen wäre.

Karl muss sich mit seiner Mutter auseinandersetzen, die ihn nach der Gehirn-OP für den Ehemann hält, mit seiner Freundin Mara, die alles für ihn in die Hand nehmen und organisieren möchte, mit dem jungen Assistenten seiner Eltern, der sich in alles einmischen möchte … Einzig und allein das Kind Tanja, das immer wieder durch eine Hecke in seinen Garten schlüpft und sich in seinen Kirschbaum setzt, bringt in ihm eine Saite zum Klingen, ist ihm in der kindlichen Freude an Fundstücken ähnlich und vermittelt ihm Lebensfreude und Genießen des Augenblicks. Kinder und Künstler scheinen verwandte Seelen zu sein.

Interessant die kleinen Seitenhiebe auf den Kunstbetrieb, auf den Hype, der einen Künstler und seine Werke überzieht, wenn er erst einmal berühmt ist. Originell die Kapitelüberschriften in jeweils einer Farbe, z.B. harzgolden, regentageblau, immer passend zum Inhalt.

Im mittleren Teil fand ich die Erzählung ein klein wenig zu komprimiert erzählt, aber die zarte, anrührende Liebesgeschichte zum Schluss hat mir gut gefallen. Ich habe mich von dieser teils poetischen, teils skurrilen Geschichte bestens unterhalten gefühlt.