Rezension

Manchmal erweist sich ein Schwachpunkt als Stärke

Die Katzen von Shinjuku -

Die Katzen von Shinjuku
von Durian Sukegawa

Bewertet mit 4.5 Sternen

Menschen mit einem Makel haben es in Japan nicht leicht, denn in der leistungsorientierten Gesellschaft ist für (vermeintlich) Schwache kein Platz. Mit Vorliebe widmet sich Durian Sukegawa in seinen Büchern diesen Menschen. Auch in seinem neuesten Roman "Die Katzen von Shinjuku" finden sich wieder Charaktere, die vom Schicksal gezeichnet sind und ihren Platz im Leben suchen.

Protagonist Yama leidet unter Farbblindheit, für die er von Kindesbeinen an diskriminiert wurde und ihm sogar den Einstieg in seinen Traumberuf versperrt. Deprimiert und resigniert sucht er Trost im Alkohol. Bardame Yume, die er bei einem Kneipenbesuch kennenlernt, leidet ebenfalls an einem Sehfehler, scheint sich damit aber wesentlich besser arrangiert zu haben. Sie ist für mich der eigentliche Star der Geschichte. Das Leben hat es mit ihr nicht gut gemeint - Sukegawa lässt ihr zahlreiche Schicksalsschläge widerfahren -, dennoch hält sie an ihren Träumen fest und schöpft gerade daraus Hoffnung und Kraft. Im Laufe der Geschichte durchläuft sie viele kleinere und größere, plausible Veränderungen, während Yama zunächst mehr auf der Stelle tritt. Mit ihrer melancholisch-optimistischen Art inspiriert sie den Protagonist und die Leserschaft gleichermaßen und nimmt sie für sich ein. Sie ist ruhig, in sich gekehrt und hat etwas Geheimnisvolles an sich, von dem sich Yama sofort angezogen fühlt. Von allen Figuren besitzt sie am meisten Tiefgang und Komplexität. Das Zusammentreffen wird sich als Wendepunkt im Leben beider erweisen. 

Wer bereits die anderen Romane Sukegawas gelesen hat, wird sich bei einigen Charakterdesigns und dem Handlungsaufbau an diese zurückerinnert fühlen. Das ist keineswegs schlecht, da es wirklich wunderschöne Bücher sind, allerdings auch nicht sonderlich innovativ. So ist es nicht verwunderlich, dass in diesem Buch das Essen wieder einen hohen Stellenwert einnimmt und seitenweise über die Zubereitung von Grillpaprika philosophiert wird - typisch japanisch -, was dem Leser das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt, auch wenn es die Handlung selbst nicht vorantreibt. Aber es macht die Atmosphäre der Erzählung dichter und greifbarer. Ebenfalls fällt auf, dass sich "Die Katzen von Shinjuku" ein wenig wie eine Biografie des Autors liest. Darauf deuten jedenfalls einige Parallelen zwischen ihm und seinem Protagonisten Yama hin, die z. B. einen ähnlichen persönlichen Werdegang haben. Die Vermutung liegt zumindest nahe, dass er sich durch reale Erlebnisse und/oder Personen zu dieser Geschichte inspirieren ließ.

"Leben und Tod sind für alle gleich.
Einzig der Weg, den jeder geht, unterscheidet sich.
Jeder sieht die Welt aus seinen Augen anders.
Selbst ein Schwachpunkt erweist sich als Stärke."

(Auszug aus dem Gedicht "Yama-chan", S. 252)

Fiktiv oder nicht, Durian Sukegawa versteht es Geschichten zu erzählen. Hauptschauplatz der Handlung ist die Bar "Karinka", eine Art Tummelplatz für allerlei Sonderlinge und Katzen, die zusammen mit dem verrucht wirkenden Golden Gai (Kneipenviertel in Shinjuku) eine sehr stimmungsvolle, schummerige Kulisse ergibt. Die (Neben-)Charaktere sind alle etwas skurril und plakativ, aber durchaus sympathisch und einprägsam. So bleibt einem z. B. der Abteilungsleiter, der allabendlich Büro-Dress gegen Pailletten und High Heels tauscht, um als „Madam Granatapfel“ durch die Kneipen zu „scharwenzelt“, definitiv längere Zeit im Gedächtnis. Sukegawas bildhafte, zarte Sprache berührt, ohne übermäßig rührselig oder überladen zu wirken und kritisiert, ohne allzu mahnend zu erscheinen. Die Handlung plätschert nicht einfach seicht vor sich hin, sondern ist charmant, humorvoll und weiß zu unterhalten. Besonders im letzten Drittel nimmt sie nochmal ordentlich an Fahrt auf, wo den Leser ein interessanter Plot Twist erwartet. Die vereinzelten Gedichte, die zum Teil wirklich schön sind und sich gut in die Handlung einfügen, werten den Text zusätzlich auf. Leider scheinen diese durch die Übersetzung ins Deutsche viel an Verständlichkeit und Lesbarkeit verloren zu haben. Die titelgebenden "Katzen von Shinjuku" stellen mehr eine Art stumme Beobachter dieser Szenerie dar, obgleich sie nicht unbedeutend für den Verlauf der Geschichte sind. Was es genau mit ihnen auf sich hat, soll an dieser Stelle aber nicht verraten werden.

Zusammen ergibt sich eine wirklich atmosphärische, berührende Gesamtkomposition voller Hoffnung und Melancholie, Poesie und Katzen - ein besonderes Stück Literatur, das von der ersten bis zur letzten Seite zu unterhalten weiß.