Rezension

Manchmal kommt es anders...

Sommerfrauen, Winterfrauen - Chris Kraus

Sommerfrauen, Winterfrauen
von Chris Kraus

Bewertet mit 4 Sternen

... als man denkt. Das gilt sowohl für den Leser dieses Romans, als auch für dessen Hauptfigur Jonas. Der soll, als vielversprechender Filmstudent, im Auftrag seines Professors Dreharbeiten für einen 'hemmungslosen' Sexfilm in New York vorbereiten. Der Leser rechnet mit drastischen, freizügigen Schilderungen und einem furchtlosen Protagonisten. 

Aber die Aufgabe liegt dem eher zurückhaltendem Jonas so gar nicht. Sein Unterschlupf bei einem schlampigen Kollegen seines Professors verlangt ihm schon vieles ab, seine eifersüchtige Freundin in Berlin macht es ihm auch nicht gerade einfach und dann ist da ja noch Tante Paula - Holocaust-Überlebende dank der Gnade seines Großvaters mit Nazivergangenheit, bei der er nur widerwillig mehr über seine Familienvergangenheit in Erfahrungen bringen soll/will. Als Thema für den Sexfilm entscheidet sich Jonas schließlich enttäuschender- und bezeichnenderweise für Ohren. 

Die ersten Zeilen des Buches (bzw. der Tagebücher von Jonas aus seiner Zeit in New York) 
"Ich drehe keinen Nazischeiß." (10 x)
zeigen dem Leser direkt, dass es nicht um Sex gehen wird. Stattdessen nimmt die Geschichte von Tante Paula viel Raum ein. Dennoch - und diese Widersprüchlichkeit findet sich hinsichtlich vieler Themen im Buch - handelt es sich bei 'Sommerfrauen, Winterfrauen' auch nicht um ein typisches Holocaust-Buch. 

Jonas soll einen Sexfilm drehen, ist selbst aber extrem verkrampft und verwehrt sich seiner Aufgabe, trotzdem geht es in dem Buch indirekt immer wieder um Sex und Liebe.
Jonas will nichts mit dem Nazischeiß zu tun haben, spielt aber einen SS-Offizier in einer Nebenrolle und erfährt dank Tante Paula viel über seinen Großvater und die Verbrechen der damaligen Zeit, doch letztlich löst Tante Paula auf, dass es in ihrer Geschichte doch eher um Liebe als Hass ging. 
Jonas will treu sein, kann sich den Reizen der Praktikantin des Goethe-Institutes, Nele, aber nicht komplett entziehen, und stellt seine Freundin trotzdem (wahrscheinlich?) an die erste Stelle. 
Aufgrund eines Unfalls lebt Jonas mit einer schweren Kopfverletzung in ständiger Lebensgefahr und stolpert dennoch von einer Extremsituation in die andere.
Dem Buch ein Grundthema zuzuordnen fällt daher schwer, doch könnte man aufgrund des Titels dazu tendieren, Jonas als Opfer bzw. Spielball der Launen und Emotionen der Frauen zu interpretieren, denen er sich verbunden fühlt. 

Der Roman lebt von lebendiger Sprache, auch einige Passagen in Englisch werden eingestreut, von Wortwitz und Ironie. Gerade die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse und Reaktionen der Figuren macht ihn realistisch und leicht. Der ironisch, unaufgeregte Tonfall des Protagonisten ist ein wirkungsvoller Gegenpol zur den teilweise extremen Situationen, in denen er sich wiederfindet. 

Insgesamt ein sehr launiges Leservergnügen, bei dem ich mir nur letztlich nicht sicher bin, was der Autor mir damit vermitteln bin. Da Chris Kraus aber auch ein erfolgreicher Drehbuchautor ist, bin ich mir fast sicher, dass es ihm hier in erster Linie um die Darstellung einer extrem intensiven Momentaufnahme eines Lebens geht. 
Typisch Diogenes - wundervoll speziell und anspruchsvoll.