Rezension

Manierierte Distanz

Sommer bei Nacht - Jan Costin Wagner

Sommer bei Nacht
von Jan Costin Wagner

Bewertet mit 2 Sternen

Ein Kind verschwindet, quasi unter den Augen der Mutter. Ben Neven und Christian Sandner nehmen die Ermittlungen auf. Recht bald zeichnet sich eine Verbindung zu einem früheren Fall ab, der Junge einer Einwandererfamilie, der nie wieder aufgetaucht ist – ein Serientäter? Es geht Richtung Abgrund… Und das nicht nur bei den Tätern – auch Ben kämpft mit pädophilen Neigungen. Christian verfolgen andere Dämonen: Er stalkt ein obdachloses Mädchen, um sie mit der Geschichte seines amourösen Traumas zuzutexten.

Erzählt wird aus gesamt 14 (!) Perspektiven, auch aus der der Eltern und des Kindesentführers. Dadurch entsteht ein Stakkato von Schnitten, aber dennoch ist das Erzähltempo gefühlt langsam und zieht erst am Ende an. Der Erzählton ist gedämpft wie hinter einer dicken Scheibe, die Atmosphäre distanziert und kühl; bei mir entstand ein Gefühl der Fremdheit. Normalerweise kann ein/e Autor/in mich dazu verleiten, auch mit wirklich schlimmen Figuren mitzufühlen. Das war in diesem Roman nicht so. Vielleicht war das vom Autor so gewollt; in dem Fall Glückwunsch, es hat funktioniert. Mit dem pädophilen Ermittler war ich überfordert – keine Lust auf Masturbationsszenen bei Betrachtung von Kinderbildern. Auch der Stalker mit seiner Detachiertheit auf der einen und Penetranz auf der anderen Seite war mir zu sperrig. Beider Verhalten wird an keiner Stelle unterfüttert, man hat keine Ahnung, warum sie tun, was sie tun.  Ähnlich die Mentorfigur Landmann mit seiner lediglich behaupteten Intuition: seine „Hilfen“ führen zu nichts, sein Handlungsfaden läuft in eine völlig andere Richtung und franst aus, ohne zur Geschichte beigetragen zu haben.

Dazu kamen Motive, die keinerlei Bezug zur Handlung hatten. Einmal das Motiv des Laufens. Ständig  „er läuft“. Egal was Ben oder Christian und andere sonst noch tun: Erstmal „er läuft“. Auch mal „Er läuft und läuft.“ Oder „Sie läuft...“ Das wird mit dem Namen des ersten Opfers auf die Spitze getrieben, denn das trägt den gleichen Namen wie ein äthiopischer Marathon-Sieger. Was soll das? Dann das Motiv des dräuenden Berges – gespiegelt im Namen von Ben Neven (eine Variante von Ben Nevis, dem höchsten Berg von Schottland und UK?). Wozu? Die Erklärung des Romantitels baut der Autor in die Vernehmung einer Opferfamilie ein, ich war verblüfft: „Sommer bei Nacht, denkt Ben plötzlich, er weiß nicht, warum.“  Das wusste ich auch nicht. Manierismen wie diese, die sich durch den ganzen Roman ziehen, haben mir den Lesespaß verdorben. Zwischendurch auch noch Anfälle von Schwulst, z. B. zum Thema Teppich: „Rot wie der Wein, den er getrunken hat mit Barbara“, oder billiger Dialektik: „Zwei Welten… In der einen springen Kinder lachend ins Wasser…“ Das Feuilleton lobt die literarische Qualität des Romans, ich kratze mir den Kopf: Haben die das alles überlesen?

Gut fand ich die Darstellung der Dynamik des Ermittlerteams und der Leiden der Eltern. Das aber reichte nicht, ich bin sehr enttäuscht von dem Roman.

Fazit: Manierierter Stil, überflüssiges Personal, Figuren, deren Handlungen psychologisch nicht unterfüttert sind, aber für den Plot gewaltsam hingebogen werden,  eine unwahrscheinliche Auflösung… Ich habe nichts gegen den klassischen gebrochenen Detektivcharakter in einer Noir Story – im Gegenteil, man denke nur an Chas Riley oder Claire DeWitt. Aber ich habe definitiv keine Lust, die Bekanntschaft mit dem neuen Ermittlerteam von Jan Costin Wagner fortzusetzen.