Rezension

Mehr Licht als Schatten - toller Schmöker!

Straße der Schatten
von Jennifer Donnelly

Bewertet mit 4 Sternen

New York, 1890. Obwohl Josephine Montfords Familie zu den angesehensten und einflussreichsten ihrer Zeit zählt, ist sie nicht glücklich mit ihrer Rolle als Tochter aus gutem Haus und ihrem engen Lebensweg, den die Gesellschaft für sie vorgeschrieben hat. Viel lieber möchte sie als Journalistin Missstände in der Gesellschaft aufdecken und vor allem auf das Elend der unteren Schichten aufmerksam machen. Der plötzliche Tod ihres Vaters reißt Josephine aus ihrem gewohnten Leben - aber er verschafft ihr auch die Chance, gemeinsam mit Nachwuchsreporter Eddie Gallagher zu untersuchen, was wirklich geschah. Hat ihr Vater Selbstmord begangen oder sollte hier etwas vertuscht werden? Bei ihren Nachforschungen lernt Jo das Leben außerhalb des "goldenen Käfigs" kennen, und sie gewinnt Einsichten über die Menschen in ihrem Umfeld und die Rolle ihrer eigenen Familie, die sie immer mehr an der für sie arrangierten Zukunft zweifeln lassen. Doch Jo's und Eddies Erkenntnisse könnten einige angesehene Personen ruinieren - und es gibt Menschen, die buchstäblich über Leichen gehen würden, um dies zu verhindern...

Ich habe von Jennifer Donnelly bisher nur "A gathering light/Das Licht des Nordens" gelesen, ein Roman, der auf einem historischen Kriminalfall beruht. Auch dort ging es um ein Mädchen, das sich entscheiden muss, ob es den Erwartungen von Familie und Gesellschaft folgt oder das Wagnis eingeht, um das eigene Lebensglück zu kämpfen. Ähnliches habe ich mir von "Straße der Schatten" erhofft, und ich wurde nicht enttäuscht:
Vielschichtige, interessante Figuren, die einem im Lauf der Geschichte ein ums andere Mal überraschen können, ein fesselnder Einblick in die dramatischen Gegesätze der Lebensentwürfe von Arm und Reich in der damaligen Zeit und eine nette, eher harmlose Liebesgeschichte - trotz des ernsten Themas also ein Buch mit "Wohlfühlfaktor".
Natürlich geht Jo's Entwicklung vom überbehüteten, naiven Mädchen zur mutigen und selbstbewussten jungen Frau sehr schnell vonstatten, aber durch den angenehmen Schreibstil der Autorin sind solche kleineren Ungereimtheiten leicht zu verkraften. Gut gefallen haben mir auch die literarischen Anspielungen, zum Beispiel auf Charles Dickens oder Edith Wharton.
Man merkt schon, dass es sich um einen modernen Roman in historischem Setting handelt - dafür, dass die gesellschaftlichen Normen für junge Frauen ihrer Schicht dermaßen restriktiv sind, gewinnt Jo am Ende doch ein erstaunliches Maß an persönlicher Freiheit. Aber es gibt schon ausreichend Romane aus allen Zeitaltern über Frauen, die an den gesellschaftlichen Vorstellungen zugrunde gehen - da bin ich doch glücklich über jedes mutmachende Gegenbeispiel, historische Genauigkeit hin oder her.
Es gab einige Entwicklungen, die ich vorher erraten habe, aber das liegt weniger an absolut vorhersehbaren Entwicklungen als an einem gewissen Gespür, das man als Leser dieser Art von Büchern allmählich entwickelt.

Eddie blieb für mich als Person etwas blass; die Nebenfiguren wie Fay, Oscar und Bram fand ich deutlich interessanter gezeichnet. Die Romanze zwischen Jo und Eddie fand ich angenehm und nicht zu kitschig-aufdringlich; dazu passt auch gut das etwas offene Ende. Hier ist nur die grobe Richtung von Jo's weiterem Werdegang vorgegeben, alles Weitere bleibt der Phantasie des Lesers überlassen, was mir generell immer gut gefällt.
Ich konnte das Buch mit dem befriedigenden Gefühl zuklappen, mich gut unterhalten und nebenbei noch Wissenswertes über die damalige Zeit erfahren zu haben, zum Beispiel über die schwierigen Bedingungen für forensische Untersuchungen. Diese Wissenschaft steckt in "Straße der Schatten" noch in den Kinderschuhen und wird von vielen Ermittlern nicht ernst genommen, was aber auch dazu führt, dass viele Verbrechen nicht oder sogar fehlerhaft aufgeklärt werden.
Eine sehr gelungene Leserunde und ein Buchtipp für Leser, die gerne Spannungsromane mit einem überzeugenden historischem Setting. Lobend erwähnend möchte ich auf jeden Fall auch das geschmack- und stimmungsvoll gestaltete Cover des Pendo-Verlags!