Rezension

Mein Jugendbuch-Highlight 2017

Den Mund voll ungesagter Dinge - Anne Freytag

Den Mund voll ungesagter Dinge
von Anne Freytag

Bewertet mit 5 Sternen

Den Mund voll ungesagter Dinge ist mein erstes Buch von Anne Freytag. Natürlich habe ich schon viel von ihr gehört (eigentlich durchweg Positives und Überschwängliches), aber irgendwie hatte es sich bisher einfach noch nicht ergeben, eines ihrer Bücher zu lesen. Den Mund voll ungesagter Dinge hat mich auf der Buchmesse aber direkt angesprochen und ich war neugierig auf Sophies Geschichte, die einerseits so typisch für einen Teenie ist, andererseits aber auch außergewöhnlich und besonders. Und Anne Freytag hat tatsächlich nur ein paar winzige Seiten gebraucht, um mich zu überzeugen - von ihrem großartigen Schreibstil, von ihrem Talent, ohne jeden Kitsch jedes einzelne Gefühl auf den Punkt zu bringen, und von ihrer Protagonistin Sophie.

Vom ersten Moment an ist einem klar, dass der Titel des Buches wie die Faust aufs Auge auf Sophie passt. Man könnte denken, sie ist der typische zickige Teenager - kein Bock auf nichts, frech und spitzzüngig. Aber: All die Dinge, die Sophie durch den Kopf gehen, liegen ihr lediglich auf der Zunge, doch sie schaffen es nicht nach draußen. Ihr Kopfkino ist gewaltig und berauschend und dass sie zwar unglaublich viel denkt, aber beinahe nie spricht, ohne nachzudenken, macht sie zu einem authentischen Menschen mit Ecken und Kanten. Ein Sympathieträger, auch wenn sie sich selbst ganz und gar nicht so sieht. Sophie ist in mancherlei Hinsicht vielleicht etwas schrullig, nicht gerade zugänglich und teilweise sogar unnahbar - aber sie ist auch überaus liebenswert. Für mich ist sie eine starke Identifikationsfigur und ein so vielschichtiger Charakter, über den es auf jeder Buchseite etwas Neues zu entdecken gibt.

Ihr gegenüber steht die lebensfrohe, stets gut gelaunte und fast schon überschwängliche Alex, der es mit ihrer offenen Art gelingt, Sophie aus ihrem Schneckenhaus zu locken. Die beiden sind füreinander geschaffen, das spürt man von Anfang an. Sie ergänzen sich perfekt und sie sind einfach auf einer Wellenlänge. Es könnte eine einzigartige, tiefe Freundschaft sein - aber das ist vor allem Sophie bald schon nicht mehr genug. Sie trifft auf Alex und nach und nach wird ihr klar, dass sie die Liebe bisher immer falsch angegangen ist. Dass es einen Grund dafür gibt, dass sie den Sex mit Jungs nie wirklich genießen konnte. Es ist sehr berührend und spannend, Sophie bei diesem Prozess zu beobachten. Teilweise stimmen ihre Gedanken aber auch traurig, denn sie fragt sich selbst, weshalb sie nicht normal sein und auf Sex mit Jungs stehen kann, und leidet darunter, eine "Enttäuschung" für Familie und Freunde zu sein. Anne Freytag liefert einen tiefen Blick in die Seele eines jungen Menschen, der dabei ist, sein wahres Ich zu entdecken und der sich selbst erst noch verstehen muss.

In Den Mund voll ungesagter Dinge werden also klassische Teenagerprobleme thematisiert - neben der eigenen Sexualität das Verhältnis zu den Eltern, die Patchworkfamilie und der ständige Kampf um den eigenen Ruf - und natürlich Homosexualität. Das Besondere dabei ist die Art und Weise, auf welche Anne Freytag die Themen zur Sprache bringt. Offen, ehrlich und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sehr erfrischend finde ich es übrigens, dass in diesem Jugendbuch Sex kein Tabuthema ist - wie viele Jugendbücher habe ich schon gelesen, in denen die Protagonisten fast schon entsexualisiert werden und Sexualität an sich kaum angesprochen beziehungsweise mit ein paar Sätzen unter den Teppich gekehrt wird. Was völlig unlogisch ist, denn Sex spielt im Leben von 17- und 18-Jährigen auf die ein oder andere Weise eine enorme Rolle, das wissen wir alle. Ich finde es großartig, wie offen Anne Freytag damit umgeht und wie selbstverständlich auch eindeutige Szenen geschildert werden, ohne dass diese fehl am Platz wirken könnten. Hier fügt sich alles einfach wunderbar zusammen und vor allem erkennen sich sicherlich viele Leser in der manchmal unsicheren, so verzweifelt um Normalität bemühten Sophie wieder.

Was soll ich noch weiter sagen... ich bin begeistert! Ich bewundere Anne Freytags einzigartigen, klaren Stil, der einem einen Blick in die Seelen der Figuren ermöglicht und einen schon nach den ersten Seiten in einen Sog zieht. Ich konnte (und wollte) Den Mund voll ungesagter Dinge kaum aus der Hand legen, weil ich einfach wissen wollte, wie es Sophie ergeht. Weil ich Anteil an ihrem verworrenen und alles andere als leichten Leben genommen und sie in mein Herz geschlossen habe. Genauso wie Alex, ihren besten Freund Lukas, Sophies Vater, Lena und die beiden Stiefbrüder Leon und Valentin. Eine wunderbare Roman-Familie mit Ecken und Kanten, die zeigt, dass im Leben nicht immer alles rund laufen und man trotzdem in jeder Situation zusammenhalten kann.

Mein Fazit:
Ich habe mein Jugendbuch-Highlight 2017 gefunden! Ich liebe Den Mund voll ungesagter Dinge und es gibt nichts (ich wiederhole: nichts), das ich an diesem Roman bemängeln könnte. Sophies und Alex' Geschichte ist so pur, so berührend und dabei in der richtigen Dosis nüchtern erzählt, sodass nicht ein Gefühl, nicht ein Dialog kitschig oder aufgesetzt wirkt. Wer im Genre Young Adult zuhause ist, hat in diesem Buch seinen Meister gefunden - ich verspreche es!