Rezension

Mein Jugendbuch-Highlight - was für ein großartiges Buch!

Nicht weg und nicht da - Anne Freytag

Nicht weg und nicht da
von Anne Freytag

Bewertet mit 5 Sternen

Mit *Den Mund voll ungesagter Dinge* hat sich Anne Freytag direkt in mein Herz geschrieben und für mich stand fest: Alles, was diese Autorin schreibt, werde ich ab jetzt inhalieren. Das liegt in erster Linie daran, dass Anne Freytag sehr modern und jugendlich, aber auch sehr explizit, erfrischend und einfach authentisch schreibt. Es gelingt ihr großartig, den Fokus auf ihre Charaktere zu legen, ihnen Raum zu geben und sie mit dem Leser zu verbinden. Das hat mich bei "Den Mund voll ungesagter Dinge" schon umgehauen und genauso habe ich es wieder bei "Nicht weg und nicht da" empfunden. Dieses Buch ist stiller, ruhiger, melancholischer und irgendwie in sich gekehrter, es ist dabei aber auch so unglaublich stark und kraftvoll. Ich sage euch direkt vornweg: Diese Geschichte hat es in sich.

 

Und das liegt in erster Linie an den starken Protagonisten - Luise und Jacob. Luise findet nach dem tragischen Selbstmord ihres Bruders nur schwer ins Leben zurück und ich hatte beim Lesen immer wieder das Gefühl, dass sie sich selbst nicht mehr kennt (oder kennen will) und dass sie mit Kristophers Tod ein großes Stück von sich selbst verloren hat. Was mir aber von Anfang an wahnsinnig imponiert hat: Luise wirkt in ihrer Verletzlichkeit und ihrer Verzweiflung unglaublich selbstbewusst - das mag natürlich zum großen Teil ihre Rüstung sein, aber man kann schon ziemlich früh erahnen, was für eine starke Entwicklung Luise im Lauf der Geschichte durchmachen wird. Und Schuld daran sind zwei Menschen: Kristopher und Jacob. Während Jacob, der sich irgendwie vom ersten Moment an zu Luise hingezogen fühlt und sich seine Faszination für dieses stille, in sich gekehrte Mädchen selbst nicht erklären kann, tatsächlich da ist und sie genau dann unterstützt, wenn sie niemanden mehr an sich heran lässt und sich am liebsten vor der ganzen Welt verstecken will, ist Kristopher die ganze Zeit über präsent, obwohl er tot ist.

 

Ein bisschen erinnert diese Idee an Jay Ashers "Tote Mädchen lügen nicht" (und tatsächlich gibt es im Buch mehrere Anspielungen auf die gleichnamige Netflix-Serie, die ich übrigens unfassbar gut finde - im Gegensatz zur Romanvorlage) - Hannah Bakers Selbstmord und ihre Kassetten haben Anne Freytag also möglicherweise und ganz vielleicht zu ihrer Geschichte inspiriert. Aber sie geht ganz anders mit der Thematik um und nähert sich ihr auf völlig andere Art und Weise. Denn Kristopher hat seiner Schwester die Mails nicht in erster Linie hinterlassen, um sich zu rechtfertigen oder ihr seine Entscheidung begreifbar zu machen. Kristopher will nach seinem Tod niemanden zur Rechenschaft ziehen - ihm geht es einzig und allein um Luise und darum, dass sie seinen Tod akzeptiert, ihn verarbeitet und wieder Freude in ihr Leben lässt. Kristopher ist der Auslöser für Luises tiefe Trauer und gleichzeitig steht er ihr bei und hilft ihr dabei, sie zu überwinden. Ein Gedanke, der mich von der ersten Seite an mitgenommen hat und der einerseits wahnsinnig traurig und ergreifend, andererseits aber auch unheimlich schön und voller Hoffnung ist. 

 

"Tote Mädchen lügen nicht" (das Buch) hat viele Leerstellen gelassen, was ich sehr problematisch für einen Jugendroman fand. Bei Anne Freytag gibt es diese Leerstellen nicht - sie gibt Luise die Kraft, sich der Tat ihres Bruders zu stellen - so schmerzhaft es auch ist -, sie lässt sie wütend und verzweifelt sein, lässt sie Kristopher hassen und ihn lieben, ihn verdammen und ihn verstehen. Und genau das macht die Geschichte so echt und mitreißend. Anne Freytag erfasst die Ambivalenz eines Selbstmordes - sie romantisiert ihn nicht, aber sie verteufelt ihn auch nicht. Sie zeigt ungeschönt und auf sehr schmerzliche Weise, welche tragischen Auswirkungen Kristophers Entscheidung auf seine Familie hatte. Was sein Selbstmord aus Luise und ihrer Mutter gemacht hat. Sie zeigt aber auch die andere Seite - denn Kristopher war bipolar und es gelingt Anne Freytag wahnsinnig gut, das ständige Auf und Ab seines Lebens in Worte zu fassen.

 

Man kann Kristopher tatsächlich auf gewisse Weise verstehen. Man kann aber auch Luise verstehen, die ihr Leben lang zu Gunsten ihres Bruders zurückstecken musste. Die vielleicht nicht die Aufmerksamkeit bekam, die sie gebraucht hätte und die früh lernte, ihren älteren Bruder zu beschützen. Die sich nach seinem Tod leer fühlt, aber ganz tief drinnen vielleicht auch frei und genau das macht das Besondere an dieser Geschichte aus. Kristophers Tod ist nicht schwarz oder weiß, er ist grau. Und er ist irgendwie zugleich hoffnungsvoll und tragisch. Luises Umgang mit diesem unglaublichen Verlust steht ganz klar im Fokus, bewegt hat mich aber auch die Reaktion ihrer Mutter, von der Luise sich nach und nach vernachlässigt und unverstanden fühlt. Luise lebt mit dem Geist ihres Bruders und seine Mails sowie auch Jacob, der ihr zu einem Zeitpunkt eine Stütze ist, in dem sie sie am meisten braucht, helfen ihr dabei, ihn gehen zu lassen. 

 

All die Themen, die Anne Freytag in "Nicht weg und nicht da" behandelt, wiegen schwer und gehen beim Lesen unter die Haut - Selbstmord, Depressionen, der Tod eines Bruders und eines Kindes, der Umgang mit Trauer. Anne Freytag geht diese Themen auf gleichermaßen offene und feinfühlige Art und Weise an und sie schafft es, dass man trotz all der Melancholie immer wieder aufatmet. Sich über jeden kleinen Schritt, den Luise zurück in ein glückliches Leben macht, unheimlich freut. Und dass man sich einlässt auf Luise und Jacob - zwei Menschen, die sich in einer Zeit finden, in der sie einander mehr als alles andere brauchen. Ich bin einfach nur hingerissen von der Tragweite dieser Geschichte und all die Gefühle, die beim Lesen auf mich eingestürmt sind, haben mich teilweise mürbe gemacht und fast niedergedrückt. Aber nur fast: Denn die Geschichte gibt so viel Mut und Hoffnung und am Ende steht die pure Freude am Leben. Danke, danke, danke für dieses grandiose Buch!

Mein Fazit
Ich habe eigentlich nichts anderes erwartet: "Nicht weg und nicht da" ist das zweite Buch von Anne Freytag, das mich komplett umgehauen, mich in meine Einzelteile zerlegt und dann wieder zusammengesetzt hat. Ich bewundere vor allem ihren genialen Schreibstil und ich liebe ihre vielschichtigen Charaktere und ich empfinde einfach bei jedem einzelnen Wort mit. Ich kann es nicht anders sagen: "Nicht weg und nicht da" ist für mich eines der besten Jugendbücher, die ich je gelesen habe!