Rezension

„Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihre eigenen.“

Die Familie - Andreas Maier

Die Familie
von Andreas Maier

Bewertet mit 5 Sternen

Andreas Maier, Die Familie, Suhrkamp 2019, ISBN 978-3-518-42862-7

 

Mit dem vorliegenden siebten Band seines autobiographischen Romanprojekts „Ortsumgehung“ hat der in Friedberg in der Wetterau geborene und aufgewachsene Schriftsteller Andreas Maier nicht nur schon weit über die Hälfte des auf angeblich elf Bände angelegten Werkes vollendet, sondern die schon in dem letzten Roman „Die Universität“ und auch schon in „Der Kreis“ angelegte Wende in seiner Entwicklung, die Geburt eines Künstlers und einer Idee von der Welt und seiner Aufgabe in ihr wird weiter entwickelt.

 

Inspiriert von Thomas Bernhard, über den er auch promovierte, entwickelte Andreas Maier schon in den Bänden „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“  und „Der Kreis“ seit 2010 von Buch zu Buch das autobiographische Erzählen als Kunstform und erweiterte sukzessive sein Beobachtungsspektrum. Quasi wie in konzentrischen Kreisen erzählt er immer wieder von seiner Kindheit und Jugend und setzt mit jedem Buch immer wieder neu an, bezieht sich auf Bekanntes, fügt Neues hinzu und begleitet als erwachsener Intellektueller mit großem Einfühlungsvermögen sich selbst als Kind und Jugendlicher auf dem Weg in die Welt und ins künstlerische, ästhetische und politische Bewusstsein.

 

In dem neuen hier vorliegenden Band „Die Familie“ ist meiner Erinnerung nach (ich habe alle Bände mit großer Begeisterung gelesen, nachdem sie erschienen waren) zum, ersten Mal jene „Ortumgehung“ genannt, die um Friedberg herum gebaut werden soll. Im Unterschied zum letzten Buch allerdings ist dieses Mal kein Datum der Handlung genannt. Damals hatte ich vermutet, dass das ganze Projekt schon längst geschrieben ist und nur nach und nach veröffentlicht wird.

 

Andreas Maier beschreibt von seinen frühen ersten Erinnerungen als dreijähriger Junge bis zu einer nicht mit einem Datum versehenen Gegenwart, in der er als Schriftsteller gerade an „Die Familie“ arbeitet und mit Hilfe seiner ehemaligen Freundin, der Buchhändlertochter, ein bisher gut gehütetes und verborgenes Familiengeheimnis lüftet, seine Familie. Die leicht esoterisch angehauchte Mutter, den als Anwalt und Lokalpolitiker der CDU erfolgreichen Vater, seinen behinderten Onkel J. und seine geliebte Großmutter, an deren Schreibtisch er seine Büchern schreibt, sie alle kennen wir aus den früheren Bänden. Wer im neuen Buch eine relativ große Rolle spielt, ist Maiers 5 Jahre älterer Bruder und dessen frühe, meist erfolgreichen Versuche, gegen die Eltern und deren Regeln zu opponieren.

 

Dieser Bruder, der schließlich abtaucht und sich nicht mehr meldet, ist für den jungen Andreas Maier schon früh der Anlass, sich mit der Unterscheidung von wahr und falsch und der Lüge im privaten und im öffentlichen Leben zu befassen, was ihn im Studium in Frankfurt dazu führt, sich mit Wahrheitstheorien auseinanderzusetzen (vgl. „Die Universität“).

 

Die Beschreibung seiner Familie und ihrer Geschichte ist von dieser Suche geprägt. Immer wieder spürt er den Widersprüchen nach und spürt die Risse, die die Welt durchziehen, fast körperlich am eigenen Leib.

 

Als am Ende eines jahrelangen Nachfragens nach den Ursprüngen des großen Besitzes der Familie mit Hilfe der Buchhändlertochter, die in der Friedberger Lokalgeschichte geforscht hat, herauskommt, dass der Reichtum der Familie jüdischen Ursprungs ist, den seine Vorfahren sich 1939 von einem wohlhabenden Juden namens Seligman  unter ungeklärten Umständen angeeignet haben, ist er nicht wirklich überrascht. Und er erkennt: „Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihre eigenen.“

 

Ich bin sehr gespannt, wie der sein Leben reflektierende Andreas Maier mit dieser Erkenntnis im nächsten Band seiner „Ortsumgehung“ umgehen wird. Auch darauf, wie er ganz persönlich mit seiner spirituellen Suche weiterkommt, die er in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen 2006 schon so beschrieben hatte:

 

„Ich bin nur ein Mensch auf der Suche nach Worten, die längst schon gefunden sind, die im Matthäusevangelium schon alle dastehen, in perfekten logischen Sequenzen, schärfer, als Wittgenstein es je gekonnt hätte, eine erschöpfende Analyse dessen, warum wir falsch sind und warum wir dadurch schuldig werden vor allem und vor jedem, nämlich bloß kraft unseres wahrheitsfernen Tuns. Eine literarische Form dafür zu finden ist sehr schwer, ich glaube, man kann keine Form dafür finden, daß wir falsch sind, keine ernste, denn eine Form, die sich vom Einverständnis des Lesers verabschiedet, ist keine Form, sondern für den Leser eine Zumutung, wie ja auch das Matthäusevangelium. Das größte philosophische Werk des Abendlandes. Das uns nichts sagt als bloß: Seid nicht. Das uns sagt: Wenn ihr aufhört, zu sein, dann seid ihr. Meine Damen und Herren ,wenn wir uns im Matthäusevangelium wieder finden, dann immer nur auf der Seite der Hohepriester, immer auf der Seite der Kleingläubigen, der Rechthaber, der Schriftgelehrten und Sophisten. Also auf Seiten derer, die sich verteidigen, die verteidigen, was sie haben, als sei das richtig, das ist unser tägliches Brot, die Selbstverteidigung, aber dieses Brot hat uns Gott nicht gegeben, und übrigens auch die Philosophie nicht, und die Literatur auch nicht. Und Sie begreifen vielleicht gar nicht, was das ist. Die Sie alles, was Sie haben und tun und wollen und erlangen, für natürlich und gut halten, und wenn Sie kurz nachdenken würden, aber im Ernst nachdenken, kehrten Sie um, aber das werden Sie nicht tun.“

 

Für Literatur hat das eine wichtige Bedeutung, auch für seine eigene:

„Ich wüsste nichts anderes, als dass Literatur den Zweck hat (meine Literatur, die ich lese und die ich schreibe), die Wahrheit zu sagen, nicht explizit, sondern anders. Auch wenn die explizite Wahrheit vielleicht im Schweigen liegt und vielleicht sogar darin, dass ich immer nur erkenne, daß sie so niemand richtig sagen kann, und vor allem ich nicht. Die Wahrheit ist, dass wir falsch sind und richtig sein könnten und falsch allein kraft unseres eigenen Entschlusses, oder nennen wir es meinetwegen auch Trägheit, sind. Die Wahrheit ist, dass wir uns alle als moralische Wesen darstellen, aber faul sind, roh, verschlagen und brutal noch in den unbeachtesten Momenten. Aber alles das lässt sich in der Literatur kaum sagen, das kann ich Ihnen sagen.“

 

Übrigens: Maier hat einmal verraten, dass der letzte Band seiner „Ortsumgehung“ sich mit dem lieben Gott befassen wird. Darauf darf man sehr gespannt sein.