Rezension

Meine geniale Freundin

Meine geniale Freundin - Elena Ferrante

Meine geniale Freundin
von Elena Ferrante

"Meine geniale Freundin" ist vermutlich der Roman, der 2016 am häufigsten in den Medien erwähnt wurde. Viel Lob, nur wenig Kritik und Spekulationen wer sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbirgt. Meine Erwartungen an dieses Buch waren enorm hoch und wurden in allen Bereichen erreicht oder übertroffen.

Die Geschichte beginnt damit, dass Lila mit schätzungsweise 70 Jahren verschwindet. Spurlos. Keins ihrer Kleidungsstücke ist noch in ihrer Wohnung, Fotos von ihr sind verschwunden oder sie hat sich raus geschnitten. Ihr Sohn wendet sich an Elena, doch auch die weiß nicht, wo ihre langjährige Freundin steckt. Elena blickt zurück und erzählt die Geschichte der beiden Mädchen. Die Handlung beginnt im Neapel der 50er Jahre, in welcher Zeit Bildung noch nicht jedem Mädchen zuteil wurde. Elena und Lila sind beide sehr klug, doch Lila scheint viel leichter zu lernen. Sie ist immer Klassenbeste, den anderen weit voraus. Elena hingegen leidet darunter immer nur die Zweite zu sein und versucht, den Abstand zu ihrer Freundin durch Lernen und Disziplin zu verringern. Die Mädchen könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Lila ein sehr freches Mundwerk hat und aufsässig und wild ist, ist Elena die ruhigere, die um das Ansehen der Lehrer bemüht ist. Sie hält sich an Regeln und überschreitet keine Grenzen. Doch dann kommt der Tag, an dem sich entscheidet, ob die beiden Mädchen weiter zur Schule gehen dürfen. Während Elena ihre Eltern gerade so dazu überredet bekommt, weigern sich Lilas Eltern sie weiter zur Schule gehen zu lassen. Die Klassenbeste, die Geniale wird von der Schule genommen und arbeitet fortan in dem Laden ihres Vaters.

Ich habe dieses Buch so unglaublich gerne gelesen. Der Schreibstil von Elena Ferrante ist wunderschön und beschreibend und dennoch flüssig zu lesen. Ich konnte das Buch kaum zur Seite legen. Besonders toll fand ich die atmosphärische Dichte und Authentizität des Buches. Als Leser, wandelt man selbst durch die Straßen des neapolitanischen Viertels. Man spürt die unglaubliche Hitze, hört die Streitereien der Einwohner und sieht all das "typisch neapolitanische" vor sich. Kurz: Man befindet sich mittendrin. Sehr authentisch empfand ich auch die Freundschaft der beiden Mädchen. Trotz der engen Verbundenheit und der Liebe zueinander, hören sie nie auf miteinander zu konkurrieren. Auch Neid ist für beide kein Fremdwort. Während Lila darunter leidet, dass Elena zur Schule gehen darf, leidet Elena darunter, dass sie nur die beste ist, weil ebendies Lila verwehrt bleibt. Unheimlich berührend empfand ich in diesem Roman die Sehnsucht nach Bildung. Lilas Leiden wird undramatisch und doch eindringlich zwischen den Zeilen geschildert. Nachdem sie von der Schule genommen wurde, lernt sie zunächst weiter, lernt im Alleingang sogar Fremdsprachen, doch irgendwann möchte sie davon, aus Selbstschutz, nichts mehr wissen. Auch die Rollen der beiden verändern sich. Lila war in ihrer Kindheit stets die mutige, die draufgängerische. Elena hingegen ruhig und bedacht. Während der ersten Jahre, die in diesem ersten Band beschrieben werden, werden die Rollen beinahe vertauscht. Elena erhält durch ihre Bildung mehr Selbstwertgefühl, während dies Lila genommen wird. Wir lernen Elena und Lila kennen, mit all ihren Macken. Wir begleiten sie während ihre Kindheit und der Pubertät. Erfahren ihre Selbstzweifel, ihre Veränderungen.

In einem Gespräch sagt Lila zu ihrer Freundin, dass diese immer weiter lernen müsse. Als diese entgegnete, dass sie in zwei Jahren ihr Abitur habe, erwidert Lila, dass sie auch danach noch weiter lernen müsse, immer. Und dass sie ihr, sollte es finanziell knapp werden, unter die Arme greift.

"(...) Du bist meine geniale Freundin, du musst die Beste von allen werden, von den Jungen und den Mädchen." (S. 398)
Während der Leser von Beginn an in Lila die "geniale Freundin" sieht, bezeichnet diese zum Ende des Buches Elena als ebendiese. Den Buchtitel empfinde ich daher als umso passender.

Fazit: Ein Roman, der den Leser verschiedenste Dinge fühlen lässt. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich in die Rollen der Mädchen zu versetzen, darüber nachzudenken was für ein Glück wir doch haben, dass uns alle Tore zu Bildung offen stehen. Ich versank in dem atmosphärischen Schreibstil und genoss das neapolitanische Flair. Ich freue mich schon darauf, erneut in die Welt von Lila und Elena einzutauchen.