Rezension

Meine Socke trifft sich im "Hier"

Vermiss mein nicht - Cecelia Ahern

Vermiss mein nicht
von Cecelia Ahern

Bewertet mit 5 Sternen

"Manchmal verschwinden Menschen direkt vor unseren Augen. Manchmal entdeckt dich jemand, obwohl er dich schon die ganze Zeit angeschaut hat.
Manchmal, wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir uns selbst."

Zitat aus dem Buch

Sandy Shortt leidet seit ihrer Kindheit an einer zwanghaften Sucherei nach verschwundenen Dingen. Das beginnt bei der Suche nach dem zweiten Socken, der nach dem Waschgang spurlos verschwunden scheint; dem Lieblings-Teddybären, den sie nachts im Bett neben sich schrecklich vermisst oder ihrem kleinen lila Tagebuch. Manchmal verschwinden jedoch auch größere und bedeutendere Dinge. Als ihre Klassenkameradin Jenny-May verschwindet, fühlt sich Sandy schuldig. Sie konnte Jenny-May nicht annähernd leiden. Doch als sie sich Jenny-May in Gedanken wegwünscht und ihre Klassenkameradin tatsächlich verschwindet, ist sie totunglücklich.

"Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass viele Turbulenzen in unserem individuellen Leben zu einer größeren Ausgewogenheit in der Welt insgesamt führen. Das heißt, ganz egal, wie unfair ich etwas finde, merke ich, wenn ich mir das größere Ganze ansehe, dass es irgendwie hineinpasst.
Mein Vater hatte ganz recht, wenn er sagte, dass man keine Mahlzeit wirklich umsonst bekommt, denn für alles muss man bezahlen. Wenn man etwas dazubekommt, muss es zuvor an anderer Stelle weggenommen werden. Wenn man etwas verliert, wird es irgendwo anders gefunden."

Zitat aus dem Buch

Nach ihrem Schulabschluss entscheidet sie sich deshalb für die Tätigkeit als Polizistin. Hier hat ihre zwanghafte Sucherei nicht nur einen Sinn, sondern ist auch noch notwendig. Die Suche nach vermissten Menschen wird ihr Hauptaufgabenfeld. Als sie feststellen muss, dass auch dort erfolglose Suchen irgendwann eingestellt werden, hängt sie den Job an den Nagel und gründet eine eigene Agentur. Eine Agentur, die nach vermissten Menschen sucht.

Bei einem ihrer Fälle verschwindet Sandy selbst. Sie gerät in eine andere Welt, an einen mysteriösen Ort namens "Hier". Dort trifft sie auf eine Vielzahl von verschwundenen Dingen. Dinge wie ein vergessenes Lachen, Erinnerungen an Momente und zweite Socken. Auch verschwundene Menschen scheinen sich hier zu finden.

Kann Sandy hier Jenny-May wiederfinden? Und wenn ja, gibt es einen Weg zurück ins Leben?

"Hier gab es keine ungelesenen Bücher, keine ungetragenen Hüte, keine unberührten Stifte. Mancher Handschuh hatte an der Hand seines Besitzers die Nähe einer geliebten Person gespürt, jeder Schuh eine gewisse Entfernung zurückgelegt, Schals hatten sich an Hälse gekuschelt, Schirme ihre Besitzer vor unerwarteten Regengüssen geschützt. Diese Dinge kannten ihre Bestimmung, sie wussten, was sie zu tun hatten, sie besaßen Lebenserfahrung, und jetzt ruhten sie in diesen Körbchen, lagen säuberlich zusammengefaltet auf den Regalen oder hingen an den Kleiderstangen, bereit, ihre neuen Besitzer an ihrem Wissensschatz teilhaben zu lassen. Wie die meisten Menschen, die hier wohnten, hatten auch diese Dinge vom Leben gekostet, und wie die meisten der Menschen hier warteten auch sie darauf, wieder Kontakt zu finden."

Zitat aus dem Buch

Wer von uns kennt das nicht? Die zweite Socke. Nach dem Waschen verschwindet sie einfach. Meine Mutter hat mir immer erzählt, das Wäschemonster hätte sie gefressen. Ist das so? Was ist mit den Dingen, die man an einer Stelle ablegt und im nächsten Moment sind sie nicht mehr da? Man ist sich sicher, man hat es genau dort abgelegt und trotzdem ist es plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Manches findet man wieder, manches bleibt für immer verschollen.

Was ist mit den Erinnerungen? Einem Lachen, einer Berührung oder dem vertrauten Duft eines geliebten Menschen? Man ist sich sicher, man behält sie für immer, scheint sie festhalten zu wollen, aus Angst sie zu verlieren. Doch auch Erinnerungen verschwinden manchmal. Sie verschwimmen, werden lückenhaft und lösen sich auf. Man weiß sie waren dort, irgendwo. Man wünscht sie sich zurück. Sehnlichst. Doch sie kommen nicht wieder. Wohin verschwinden sie?

Genau solche Dinge verschwinden auch in "Vermiss mein Nicht", dem Roman von Cecelia Ahern. Sie verschwinden an einen geheimnisvollen Ort namens "Hier" um sich dort wiederzufinden und weiterzuleben. Im "Hier", im Jetzt, für den Moment.

Aherns Nachfolger von "P.S. Ich liebe dich" fällt vielleicht etwas aus der Reihe. Er erzählt weder eine Liebes- noch eine typische Lebensgeschichte. Er setzt sich mit etwas Ernstem auseinander. Er ist anders, nahezu speziell. Er widmet sich dem Verlust von Dingen und Menschen. So erzählt uns Ahern in "Vermiss mein Nicht" eine fantasievolle, liebenswürdige und berührende Geschichte. Eine Geschichte, die uns zum Nachdenken anregt und uns vielleicht sogar unsere eigenen Wünsche und Ziele wieder intensiver ins Auge fassen lässt. Eine Geschichte, die uns daran erinnert, wie schön das Leben sein kann! Zumindest jedem, der sich auf es einlässt.

"Als Menschen sind wir die Verkörperung des Lebens, und das Leben besteht aus Gegensätzen, die ein Gleichgewicht bilden. Leben und Tod, Männlich und Weiblich, Gut und Schlecht, Schön und Hässlich, Gewinn oder Verlust, Liebe und Hass. Verlieren und Finden."

Zitat aus dem Buch