Rezension

Melancholisch und doch hoffnungsvoll...

Abendrot
von Kent Haruf

Bewertet mit 5 Sternen

Holt, eine Kleinstadt im Herzen Colorados. Zwei alte Viehzüchter müssen den Wegzug ihrer Ziehtochter verkraften. Ein Ehepaar kämpft in seinem verwahrlosten Trailer um ein Stückchen Würde und um seine Kinder. Ein elfjähriger Junge kümmert sich rührend um seinen kranken Großvater. So hart das Schicksal auch zuschlägt – die Menschen in Holt sind entschlossen, dem Leben einen Sinn abzutrotzen. Und begegnen einander dabei neu.

Das Leben ist rau in Holt, Colorado. Das durften wir ja bereits im ersten Band der 'Plainsong-Trilogie' erfahren. Ländlich die Umgebung, karg die Landschaft, spielend etwa in den 60er oder 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, agieren hier erneut nur ein paar wenige Figuren.

Wer wie ich 'Lied der Weite' im Vorfeld gelesen hat, wird sich freuen, hier auf bekannnte Charaktere zu stoßen und im Grunde an die Geschehnisse aus dem vorherigen Band anzuknüpfen. Sowohl die zwei alten McPheron-Brüder auf ihrer Rinderfarm tauchen wieder auf als auch ihre Ziehtochter Victoria samt deren kleinen Tochter Katie. Auch dem Lehrer und alleinerziehenden Vater Tom Guthrie begegnet man wieder sowie seiner Kollegin Maggie Jones, die nun seine Feundin ist.

Doch es gibt auch bislang unbekannte Gesichter, die hier eine Rolle spielen. Betty und Luther beispielsweise, die in ärmlichen Verhältnissen in einem abgehalfterten Wohnmobil leben und sich nicht immer ausreichend um ihre Kinder kümmern. Oder auch der 11jährige DJ, der pflichtbewusst zur Schule geht und sich ansonsten um seinen alten Großvater kümmert, der ihn nach dem Tod der Mutter aufgezogen hat.

Durch einen stetigen Wechsel der Perspektiven bringt Kent Haruf dem Leser behutsam die Charaktere näher, verflicht ihre Geschichten miteinander und webt daraus erneut eine leise Geschichte der Begegnungen. Dabei beschreibt der Autor die Charaktere nur, positioniert sich selbst nicht, wertet nicht. So erwächst oftmals ein tiefes Verständnis für die Menschen, fast  für einen jeden von ihnen, und auch das ist eine große Kunst.

'Plainsong' bedeutet übersetzt: 'Choral'. Und tatsächlich durchzieht fast hörbar eine leise Musik die Zeilen des Romans, getragen und in Molltönen oft, und durchsetzt mit dem Klang des ewigen Windes über der kargen Graslandschaft.

Obschon hier kein Wort zu viel gesetzt ist, der Schreibstil nüchtern beschreibend und fast sachlich wirkt, erreichen den Leser unzählige Emotionen. Vieles entsteht zwischen den Zeilen, unaufgeregt und doch eindringlich - und ein zentrales Thema ist die Einsamkeit. Diese betrifft alle Generationen - von jung bis alt. Und vor allem die Kindheiten in Holt sind - nun ja - kein Kinderspiel... Die Begegnungen, die Akzente der Mitmenschlichkeit - sie sind es, die die Einsamkeit zuweilen auflösen und die selbst angesichts mancher Schrecknisse für Hoffnung und Trost sorgen.

Es ist, wie Bernhard Schlink auf dem Umschlag des Romans schreibt: "Kent Haruf nimmt uns mit, wohin wir nie wollten, und bald wollen wir von dort nicht mehr weg."

Dem ist tatsächlich nichts hinzuzufügen. Außer dem Bedauern, dass ich mich nun zunächst von der kleinen Stadt in Colorado verabschieden muss und auf ein baldiges Erscheinen der Übersetzung auch des dritten Teils der 'Plainsong-Trilogie' hoffe...

© Parden