Rezension

Menschen und Elefanten

Leaving Time - Jodi Picoult

Leaving Time
von Jodi Picoult

Bewertet mit 4 Sternen

Mit ihrem neusten Roman “Leaving Time” schafft Jodi Picoult genau das, was fiktive Prosa schaffen sollte: Sie entführt ihre Leser in die Welt ihrer Fantasie und lässt sie Dinge glauben, die nicht unbedingt realistisch, aber für die Geschichte wichtig sind. Das, was im Englischen so griffig „suspension of disbelief“ heißt.

Der Roman handelt von Jenna Metcalf, die von ihrer Mutter Alice verlassen wurde. Alice ist Wissenschaftlerin und erforscht den Trauerprozess von Elefanten. Nachdem sie von einem Elefanten verletzt wird, verschwindet Alice spurlos und lässt ihre kleine Tochter zurück. Über zehn Jahre später, Jenna ist mittlerweile ein Teenager, beginnt sie verbissen nach ihrer Mutter zu suchen. Jenna möchte herausfinden, warum ihre Mutter sie verlassen hat. Sie überzeugt zwei ungewöhnliche Partner, ihr bei der Suche zu helfen: Virgil Stanhope, einen Privatdetektiv und ehemaligen Polizisten, sowie die Hellseherin Serenity Jones.

Die Handlung liegt im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Paranormalem. Jodi Picoult spielt mit Erwartungen und Vorurteilen und schafft es dabei, glaubwürdige Charaktere zu zeichnen. Ich stehe „übersinnlichen Fähigkeiten“ skeptisch gegenüber und genieße ihren Einsatz in fiktionaler Unterhaltung selten bis gar nicht. Komplett klischee-frei bleibt auch „Leaving Time“ nicht, jedoch stellt Picoult ihre Hellseherin überraschend differenziert dar. Serenity hat ihre Fähigkeiten vor mehreren Jahren verloren (suspension of disbelief… glauben wir einfach mal, dass sie die je hatte). Sie bezeichnet sich seit dem selbstkritisch als „swamp witch“, die gutgläubigen Kunden Übernatürliches vorgaukelt. Keiner von Jodi Picoults Protagonisten ist besonders heldenhaft, alle ringen mit ihren inneren Dämonen und werden so ein Stück menschlicher.

In die Handlung flicht die Bestseller-Autorin spannende Beobachtungen über Elefanten ein, die die verschollene Alice dokumentiert hat – Informationen, die Jodi Picoult gewohnt detailliert recherchiert hat. Sie bereichern das Buch, nicht zuletzt weil es zwischen dem Trauerverhalten der Elefanten und dem der Charaktere gut platzierte Parallelen und Unterschiede gibt.

„Leaving Time“ hat ein Ende, das die Bezeichnung „überraschend“ wirklich verdient. Der Roman steigert die Spannung so subtil, dass ich die große Wendung am Ende nicht habe kommen sehen. Wie ein großer Felsbrocken, den man auf ein feines Spinnennetz schmeißt, zerreißt die Wahrheit über Alice Metcalfs Leben Jennas Realität. Jenna, Serenity und Virgil spielen im Laufe der Untersuchung von Alices Verschwinden so viele potentielle Szenarien durch, dass es kaum möglich scheint, dass keines davon der Wahrheit entspricht. Und genau in dem Moment, in dem man meint zu wissen, wie das Buch ausgeht, kommt alles ganz anders. Ganz anders.

Jodi Picoult schreibt wie gewohnt sehr flüssig und in leicht verständlicher Sprache, so dass selbst Nicht-Muttersprachler mit der englischen Ausgabe bestens zurechtkommen.