Rezension

Mikrotargeting, Wahlmanipulation, Terrorismus - und wer davon profitiert

Mindf*ck - Christopher Wylie

Mindf*ck
von Christopher Wylie

Bewertet mit 4.5 Sternen

Als 2018 im hochgesicherten Untergeschoss des Capitols Christopher Wylie vor dem Geheimdienstausschuss des Abgeordnetenhauses der USA befragt wird, steht dort „der erste Whistleblower der Millenials“. Der 1989 geborene Wylie ist politisch liberal eingestellter Kanadier, der im US-Wahlkampf Data-Mining perfektionierte und später in London als Forschungsleiter für Cambridge Analytica tätig wurde – in der Annahme, seine Abteilung würde Strategien der Terrorismus- Bekämpfung entwickeln. Wylie machte als „Schwuler im Rollstuhl“ bereits früh die Erfahrung, dass Gesprächspartner seine plausibel vorgetragenen Forschungsergebnisse nicht verstehen konnten – oder wollten. So wird die LPC wider besseres Wissen vernichtend geschlagen, weil alte Herren am Tür-zu-Tür-Wahlkampf festhalten, während ihre Konkurrenz in Datensysteme investiert.  Wylie wurde zum PC-Crack, weil er bereits als Kind im Rollstuhl saß, und programmierte seit seinem 13. Lebensjahr. In der Hackerszene war es egal, wie jemand läuft oder aussieht. Als Schüler einer internationalen Schule erkennt Wylie früh, dass Privates politisch ist und dass Schule einem Jugendlichen selten die Welt erklären kann. Dass die Schwachstellen in Systemen einmal Wylies Lebensthema sein würden, ist sicher kein Zufall.

Nach kurzer Tätigkeit für die Liberale Partei Kanadas (LPC) studiert Wylie bereits als 18-Jähriger die Wahlkampf-Taktik des Obama-Teams. Dabei geht es um das Targeting von Werbebotschaften zur Wählermobilisierung mithilfe von Künstlicher Intelligenz. Das Rückgrat der Kampagne werden Datenbestände und Vorhersage-Algorithmen sein. Wylie erkennt, dass wichtiger als Charisma und Glaubwürdigkeit eines Kandidaten Nischen-Themen sind, die teils winzige Wählergruppen umtreiben. Vereinfacht ausgedrückt: Wahlen werden inzwischen nicht mehr durch öffentliche Auftritte entschieden, sondern durch individuelle, gezielte Werbebotschaften in Sozialen Medien, die von Empfängern dieser Botschaften jedoch nicht als Wahlkampf erkannt und für private Ansichten innerhalb geschlossener Gruppen gehalten werden. 2011 geht Wylie zum Jurastudium nach London und findet sich erneut im Thema Mikrotargeting, da sich nun die britischen Liberaldemokraten für Obamas Wahlkampftaktik interessieren. Während Wylie sich in den USA für sein Targeting offen an Daten über PKW-Besitz, Waffenbesitz, Religion, füheres Wahlverhalten, Kredite und Versicherungen von Haushalten bedienen kann, müssen in Großbritannien teils noch ausgedruckte, gebundene Wählerverzeichnisse gewälzt werden. Aus Wylies Sicht stagnieren das britische Wahlsystem und -verhalten irgendwo um 1850. Wylies Englandaufenthalt lehrt ihn, dass britische  Wähler sich Parteien nicht zugehörig fühlen und ihre Identität  genauer mit dem Fünf-Faktor-Profil zu beschreiben ist. Das Verhalten von Kulturen ist wie das von Individuen vorhersehbar, wenn man über entsprechende Daten verfügt. Damit hatte Wylie ein simples wie effektives Vorhersage-Tool  für Wahlverhalten entdeckt, das die zentrale Idee hinter Cambridge Analytica sein wird.

Lange war ich überzeugt, dass Wahlen hauptsächlich durch Aktivierung von Nichtwählern entschieden werden können. Wylie erkannte früh, dass Steve Bannon (Breitbart News) in den Sozialen Medien mit gigantischen finanziellen Mitteln einen Kulturkrieg vorbereitete, in dem Fakten durch virtuelle Realität und alternative Narrative ersetzt werden sollten. Testgelände für ein laut Wylie gezieltes Schüren politischer Konflikte waren (quasi als digitaler Kolonialismus) Nigeria und abgelegene Inseln, wo  Instrumente zur Wählermanipulation unbemerkt von der Weltöffentlichkeit und frei von störenden Bürgerrechten oder Datenschutz getestet wurden.

Außer einem selbstkritischen Rückblick auf seine Mitschuld an den Vorgängen bei CA zeigt Wylie hier knallhart den Zusammenhang zwischen der Radikalisierung von Lone-Wolf-Typen durch gezieltes „Priming“ ihrer Wahrnehmung in den Sozialen Medien, konkreten Terroranschlägen und der Verantwortung, die Konzerne wie Facebook für die Vorgänge tragen. Für Wylie gibt es keine „Communities“ und er erklärt, warum Soziale Medien für den User nicht gratis sind.

Obwohl ich mich zum Fall Cambridge Analytica, der Manipulation des Brexit-Referendums 2016 und der US-Präsidentenwahl 2016 vor der Lektüre von Mindf*ck gut informiert fühlte, konnte mir Wylies Bericht beachtlichen Mehrwert bieten durch die psychologischen Grundlagen von Mikrotargeting speziell in sozial abgehängten, leicht kränkbaren Bevölkerungsgruppen. Wenn nicht bereits nach Christchurch geschehen, muss spätestens nach der Lektüre von Mindf*ck  auch in Europa die Verantwortung für Terroranschläge durch „gekränkte, psychisch labile Einzeltäter“ neu bewertet werden.

Wylie kann Zusammenhänge erkennen und erklären, weil er als Kanadier die USA eben nicht für kulturell überlegen und für das Maß aller Dinge hält. Das „Othering“, das Unterscheiden in „wir“ und „die anderen“ als Grundlage gesellschaftlicher Spaltung erklärt Wylie psychologisch fundiert. Einzig seine wechselnden Einsatzorte  in Kanada, USA, Großbritannien fand ich etwas schwierig zu verfolgen.

Wylies Verdienst ist zweifellos, wie plausibel er die Verknüpfung von Wahlmanipulation, ihrer Finanzierung durch russische Oligarchen und dem weltweiten Einfluss Sozialer Medien auf zornige junge weiße Männer begründet.