Rezension

Miras Welt/ vielschichtig, schlicht, packend!

Miras Welt - Marlies Lüer

Miras Welt
von Marlies Lüer

Bewertet mit 4 Sternen

„Miras Welt“ ist ein Buch mit vier Erzähl- oder Deutungs-Ebenen, schlicht gehalten im dennoch ausdrucksreichen Sprachstil, voll von Zauberhaftem wie auch Alltäglichem. Es eint daher diese Gegensätze auf unkonventionelle Weise. Nicht immer bekommt der Leser/ die Leserin, was er/ sie sich wünscht! Doch einfach zu gefallen, scheint nicht die Intention der Autorin.

Inhaltlich hat man es in der Hauptsache mit zwei Frauen zu tun: Mira, eine ältere Dame mit aufwühlender Vergangenheit, und Melissa, einer jungen Reporterin mit ungewisser Zukunft. Gleich zu Beginn beschließt das Schicksal, Melissas Welt auf den Kopf zu stellen und gründlich umzukrempeln: Ihr Freund setzt sie förmlich vor die Tür, ihr Verlag macht in absehbarer Zeit die Schotten dicht, und ihre Mutter scheint ihren Kummer in Alkohol zu ertränken: Die Heldin ist also in großen Schwierigkeiten.

Mira hat bereits Frieden mit ihrem Leben geschlossen: Sie bewirtschaftet ein Haus mit Garten, ist berühmt im Dorf für ihre kulinarischen Köstlichkeiten und auch für eine Gabe, die ihr gleich zu Beginn den Besuch von Melissa ankündigt: Diese will eine Reportage über Frauen mit bestimmten Fähigkeiten machen. Es kommt zu einem Unfall, der Melissa für wenige Tage an das geheimnisvolle Haus bindet. Sie findet ein Büchlein, liest es – und tritt damit unwiederbringlich ein in Miras Welt, die sie nicht mehr loslassen wird.

Um die Welten der beiden Frauen von einander abzugrenzen, wählt Marlies Lüer hier zwei verschiedene Erzählweisen: Zum einen erzählt Melissa, was ihr widerfährt, in der Ich-Perspektive, zum anderen werden alle Gegebenheiten, die Miras Alltag beschreiben, in der 3. Person geschildert. Das mag manchmal verwirren, jedoch kennzeichnet es die Verschiedenheit der Welten, und je länger man liest, desto mehr nimmt man dies einfach hin.

Die nächste Ebene neben diesen augenscheinlichen Ereignissen in diesem Buch ist das seelische Erleben der Protagonisten. Tief blickt man in das Seelenleben einer Frau, die sich im hektischen Alltag verstrickt hat, die keine Zeit mehr für sich selbst findet und daher auch im eigenen Urteilsvermögen sich oft selbst einschränkt. Dagegen steht eine schrullige alte Dame, die mit einem Steindrachen in ihrem Garten Gespräche führt und behauptet, mit Elfen reden zu können. Merkwürdig erscheinen beide Frauen, jede auf ihre Weise.

Je länger man liest, desto tiefer gerät man in weitere Ebenen des Buches. So schildert ein Buch, das Mira wiederum geschrieben hat und das Melissa findet, die Geschichte der jungen Mira, die zwei Söhne hat. Die körperliche und geistige Behinderung des jüngsten Kindes wird dabei nicht nur anschaulich, sondern echt und in aller Härte geschildert. Manchmal sind Lese-Pausen angesagt, denn hier geht es ums Eingemachte! Man halte sich auch beim Lesen eventuell Taschentücher in der Nähe!

Melissa wird hiervon ebenso angefasst wie der Leser. Sie beginnt, die Welt mit Miras Augen zu sehen. Was auch bedeutet, seinen Geist zu erweitern für Engel und andere Geistwesen aus der Esoterik. Diese Ebene führt den Leser zur Versöhnung mit der Unbill des Lebens. Und das heißt schon etwas!

Allein die vielen Rezepte stören für meinen Geschmack manchmal den Lesefluss. Für Liebhaber guter Küche aber ist dies vielleicht nützlich.

Ich vergebe daher vier Sterne:

- für die schlicht-schöne Sprache, angenehm zu lesen und mit erholsam guter Grammatik(!),

- für die packende Schilderung von Leben und Tod des Martin – wie gesagt, Taschentuch-Alarm,

- für Marlies Lüers liebevolle Erweckung der Figur der Mira, die ich gern in weiteren Büchern gelesen hätte und die sehr ans Herz wächst, weil sie so herzlich und selbstbestimmt ihren Weg geht – und schließlich

- für den Versuch, diese Vielschichtigkeit in einer stimmigen Geschichte zu einen.

Es hätte noch einen 5. Stern geben können – allein die Rezepte waren mir zu viel.vielschichtig