Rezension

Mit Wortspielen ein Wortreich aus Wortgewalt gebaut

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
von Lilly Lindner

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt: April ist in einer Klinik und kämpft gegen ihre Magersucht an. Phoebe ist nun alleine und schreibt April viele Briefe, auch wenn April nie darauf antwortet. Sie schreibt über ihren Alltag, teilt ihre Gedanken und fragt viele Fragen: Wann wird April wieder nach Hause kommen? Warum bekommt sie keine Antworten? Wieso ist sie in der Stille versunken und wieso verhungert sie freiwillig? Phoebes Eltern haben sich ebenfalls in der Stille verloren und sind Phoebe kein Halt in dieser haltlosen Zeit. Die Briefe sollen mit den Worten die Stille füllen, die April hinterlassen hat…

 

Der allgemeine Meinungs-Stapel

Das gesamte Buch ist in Briefform geschrieben. Anfangs dürfen wir die Briefe von Phoebe lesen, die damit leben muss, dass April nie auf ihre Briefe antwortet. Danach tauchen wir in die Briefe von April ein, die auf Phoebes Briefe eingeht, ohne, dass sie sie abschicken darf. Die Briefe berühren und fesseln gleichermaßen. Die Handlung hat einen sehr sanften, dafür aber umso emotionaleren Verlauf und oft muss man Pausen machen, um das Gelesene verarbeiten zu können.

Phoebe ist ein außergewöhnliches Mädchen. Sie ist zwar noch ein Kind, aber so klug. Sie sieht auch das, was andere nicht sehen und vor allem, spricht sie es aus! Ihre Sätze sind genauso, teilweise Kind und teilweise voller Weisheit. Natürlich kann man darüber streiten, ob ein so junges Mädchen solche Gedanken haben kann. Aber die beiden Schwestern sind Ausnahmen in ihren Gedanken und Wörtern und ich denke, so etwas kann es wirklich geben.

"Das Ganze hat fünf Minuten gedauert! Wenn es nur fünf Minuten dauert, um einem Kind zu helfen, damit es nicht für immer in England verlorengeht, dann sollte doch jeder Mensch fünf Minuten von seiner Zeit übrig haben, um ein bisschen Achtsamkeit zu verschenken. Dazu haben wir doch Augen, oder? Um hinzugucken, wenn da etwas ist, das gesehen werden muss." (Seite 30)

Phoebe ist auf ihre ehrliche und herzensgute Art das Licht in diesem düsteren Buch. Ihre Gedanken sind so farbenfroh und verwandeln selbst schlimme Wörter noch in Gute.

"Phoebe, du bist ein Wortgeschenk." (Seite 251)

 

Doch auch April ist besonders. Sie ist nicht einfach nur ein Mädchen, das Magersucht hat, sondern steckt voller Gefühle und Gedanken, die sie nicht ausspricht. Sie hat sehr viel durchgemacht und Emotionen und Situationen erlebt, die ein junges Mädchen nicht erleben sollte.

"Aber ich habe lieber Schmerzen. Als unechtes Glück." (Seite 272 zum Thema Antidepressiva)

Während Phoebes Briefe ein Wechselbad der Gefühle zwischen normalen Alltag und weisen Gedanken hervorrufen, sind Aprils Briefe nur noch düster, kalt und traurig – sehr traurig. April erklärt aber auch vieles, so dass der Leser verstehen kann, wieso sie in die Magersucht gerutscht ist und wieso sie in der Klinik gelandet ist. Man erfährt viele ihrer Gedanken, auch wenn diese sehr traurig sind und am liebsten möchte man sie einfach nur in den Arm nehmen und ganz fest halten! April ruft andere Gefühle im Leser hervor, aber es ist nicht Mitleid, sondern Mitgefühl, das man bei ihr hat.

 

Lilly Lindner hat zwei Schwestern geschaffen, die sehr gleich sind und doch so unterschiedlich. Beide Schwestern berühren mit ihren Worten – das Herz und den Kopf und so viele Gedanken werden erweckt und so viele Emotionen, dass man das Buch nicht einfach nur verschlingen kann, sondern jede Zeile genussvoll aufsaugt.

Die Autorin ist eine großartige Schriftstellerin – es ist unglaublich, wenn man bedenkt, was diese junge Frau in ihrer Kindheit und Jugend alles erleiden musste und wie ihr Werdegang ist. Und trotz dieser vielen schlimmen Erlebnisse sind ihre Wörter so zauberhaft, hell und klar. Sie verwandelt normale Wörter in besondere Gedanken und vereint darin geschickt Leben, Emotionen und eine Geschichte, dass ich davor nur meinen Hut ziehen kann.

In meinen Augen trifft das, was April über Phoebe sagt, auf Lilly Lindner zu:

"Phoebe, du bist wortreich. Du bist das Wortreich! Das Reich, in dem all die Worte unbeherrscht nach ihren Satzzusammenhängen suchen können. In deinem Reich finden sie ihren Ausgangspunkt, ohne sich zu verrennen. Du hast die Gabe, jedes beschwerte Wort von seiner Last zu befreien, ohne dabei das Wortgewicht zu beschädigen." (Seite 239)

Lilly Lindner ist eine Wortgewalt, ohne, dass sie Schmerzen verursacht. Sie beschreibt das Leben mit all seinen Facetten und Emotionen und bleibt dabei sowohl realistisch als auch hoffnungsvoll. Sie zeigt beim Schreiben klare Grenzen auf, an die jeder Mensch stoßen kann und beschreibt dabei alles so bildreich und weise, das man nur ungläubig den Kopf schütteln kann über soviel Wortgeschick.

 

Auf den Lesen-Stapel?

Ja, jeder, wirklich jeder Leser sollte Bücher von Lilly Lindner lesen. Egal, ob er mit diesem Jugendbuch oder einem anderen Werk der Autorin beginnen möchte – LEST ihre Bücher! Diese Bücher sind nicht 0815, sondern entführen euch in eine Welt der Worte. Gefühle, überall Gefühle – hell und dunkel, groß und klein und Zwischendrin ganz viel Leben, verpackt in Wortspiele und Wortmacht, ohne, dass die Macht missbraucht wird. Dieses Buch stößt an, rüttelt am Leser und seinen Emotionen, rüttelt an behüteten Verhältnissen und vor allem lässt es eigene Wortgewalten erwachen, um in diesem Wortreich von Lilly Lindner versinken zu können. Gewaltige, großartige, grandiose 5 Sterne und der absolut sichere Platz auf Karlys Schätzestapel für dieses Buch und nicht nur eine Leseempfehlung, sondern Lesepflicht für ihre Bücher!