Rezension

Mitreißend erzählt – als wäre man selbst dabei!

Fräulein Gold. Scheunenkinder - Anne Stern

Fräulein Gold. Scheunenkinder
von Anne Stern

Bewertet mit 5 Sternen

Berlin, Herbst 1923. Die Stadt ächzt unter einer horrenden Inflationswelle, die Menschen stehen mit Koffern voller Geldscheine Schlange, um etwas Brot oder Gemüse zu ergattern. Die Ellenbogen müssen ausgefahren werden, mit Nächstenliebe kommt keiner mehr weit in diesen tristen Oktobertagen.

 

Auch die Hebamme Hulda Gold kämpft mit den Schwierigkeiten dieser Tage, während sie von Termin zu Termin hetzt, um ihre Schwangeren und Wöchnerinnen zu betreuen. Ihr Vater, zu dem sie ein eher schwieriges Verhältnis hat, vermittelt ihr den Kontakt zu einer streng gläubigen jüdischen Familie im Scheunenviertel. Die Schwiegertochter des Hauses steht kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes und benötigt Unterstützung. Hulda schafft es, die junge Frau von einem gesunden Jungen zu entbinden. Doch schon bei ihrem ersten Nachsorgetermin ist das Kind spurlos verschwunden und Hulda stößt auf eine Mauer des Schweigens. Doch Hulda Gold ist eine Frau mit Gerechtigkeitssinn. Und so setzt sie alles daran, das Neugeborene zu finden…

 

Der zweite Teil der Reihe um die Berliner Hebamme Hulda Gold lebt vor allem von der Stimmung, die Autorin Anne Stern meisterhaft einzufangen weiß. Die Sorgen und Nöte der Menschen in Berlin und insbesondere im Mikrokosmos des jüdischen Scheunenviertels werden anschaulich und bewegend geschildert. Man fühlt sich mittendrin in dieser aufreibenden Zeit und leidet, hofft und bangt mit den Charakteren.

 

Hulda ist eine sehr sympathische und vielschichtige Hauptfigur. Sie ist eine moderne Frau, die auf keinen Fall vom Wohlwollen eines Ehemannes abhängig sein möchte. Sie ist neugierig und steckt ihre Nase durchaus gern in Dinge, die sie vermeintlich nichts angehen – aber sie hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und versucht immer, den Menschen in ihrer Umgebung zu helfen. In diesem Fall wird sie auch mit ihrer eigenen Herkunft konfrontiert, da sie – von Seiten ihres Vaters her – Jüdin ist (auch wenn sie die Religion nicht praktiziert). Sie muss erfahren, dass mittlerweile ein jüdischer Nachname Grund genug ist, um diffamiert zu werden oder sogar körperlich angegriffen. Diese pauschale Verleumdung bestürzt sie und macht ihr Angst. Anne Stern stellt das sehr einfühlsam dar.

 

 

Der Roman ist nicht ausgelegt, eine actionreiche Kriminalgeschichte zu erzählen, wie das vielleicht anhand des Klappentextes suggeriert wird. Die Handlung kommt eher langsam in Fahrt und lebt nicht vom Erzähltempo, sondern von den Bildern, die sie im Leser heraufbeschwört. Das muss man Anne Stern lassen – sie versteht es wirklich, den Leser völlig hineinzuziehen in ihre Geschichte, egal ob gerade etwas Dramatisches passiert oder sie „nur“ eine normale Straßenszene beschreibt. Leser, die auf Action stehen, könnten daher ein wenig enttäuscht sein von der (nicht so umfangreichen) Handlung des Buches. Aber ich finde, das macht die Autorin mit ihrer Erzählweise mehr als wett. Ich liebe es, dass ich mich in ihren Büchern völlig verlieren kann und das Gefühl habe, an Huldas Seite zu stehen und alles mit eigenen Augen zu sehen. Deshalb freue ich mich auch jetzt schon auf den nächsten Teil (angekündigt für April 2021)! 4,5 Sterne für die „Scheunenkinder“!