Rezension

Morbides Setting mit starker jugendlicher Heldin

Der Mädchenwald - Sam Lloyd

Der Mädchenwald
von Sam Lloyd

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die 13-jährige Elissa ist Turnierschachspielerin; sie wird direkt vor dem Veranstaltungsort ihres Turniers entführt. Das Mädchen wächst zuvor vielleicht etwas zu behütet bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Als konzentrierte Beobachterin erkennt Elissa genau die Schwächen ihrer Mitmenschen und als Schachspielerin ist sie gewohnt, mehrere Schritte im Voraus zu denken. Elissas Entführer hält sie auf dem Gelände eines morbide wirkenden herrschaftlichen Besitzes gefangen. Außer der ungenutzten Wildhüter-Hütte bröckeln weitere Gebäude vor sich hin. Ein Abstellplatz für schrottreife Trucks und Wohnwagen verstärkt den Eindruck eines Lost Place. Außer Entführungsopfer und Kerkermeister ist die Dritte im Bunde der handelnden Figuren die ermittelnde Kommissarin Maréad. Sie steht in einer persönlichen Krise direkt vor dem Zusammenbruch, hält sich jedoch eisern aufrecht, weil sie den Entführungsfall um keinen Preis abgeben will. Die Ermittler sehen sich vor einer Sisyphos-Arbeit; denn zunächst ist jeder verdächtig, der sich am Ort der Entführung aufgehalten hat.

Elissa schätzt ihre Situation gleich zu Beginn realistisch ein: sie ist verletzt und wird ohne Hilfe von außen in diesem Keller sterben. Dass sie sich mit ihrem Bewacher Elijah verbünden und mit seiner Hilfe fliehen kann, schließt sie sofort aus; denn der jungen Mann wirkt zu sonderbar, evtl. ist er leicht behindert. Eine Wand in seinem Kopf verhindert offenbar, dass er die dramatische Situation seiner verletzten Gefangenen erkennen kann. Selbst wenn Elissa eine Nachricht nach draußen schaffen könnte, müsste ein möglicher Empfänger ihre Botschaft klug einordnen können. Wie soll das Mädchen das schaffen, während die Ermittler immer noch im Dunkeln tappen? Selbst die Verknüpfung des aktuellen Falls mit früheren Vermisstenfällen hat Mairéads Team nicht recht weitergebracht. Auf Elijas Seite zeigt sich als Stärke, dass er offenbar auf diesem Gelände aufgewachsen ist und gelernt hat, den Wald genau zu erspüren. Sam Lloyd schafft hier ein bedrohliches Setting, in dem ich den Wald zu hören und zu riechen glaubte.

Die Handlung erstreckt sich über 7 Tage, springt anfangs wie im Zickzack zwischen Beginn und Ende der Zeitspanne hin und her, scheint in der Mitte länger zu verharren, bis schließlich am entscheidenden letzten Tag die Szenenwechsel förmlich am Leser vorbeirasen und sich eine schier atemlose Spannung aufbaut. Hochinteressant fand ich, wie Elissas Bild  ihres Kerkermeisters allmählich Form annimmt und wie unterschiedlich sich ihre und meine Zweifel an dieser sonderbaren Person entwickelten. Im Dickicht von Lloyds „Märchenwald“ (engl. The Memory Wood) wird mit harten Bandagen gekämpft und Blut fließt reichlich. Als originelles Setting mit einer klugen Hauptfigur kann ich das Buch nur empfehlen.