Rezension

Mord im Angesicht des Krieges

Die Toten vom Gare d’Austerlitz -

Die Toten vom Gare d’Austerlitz
von Chris Lloyd

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ein dunkler historischer Kriminalroman mit einem spannenden Protagonisten und komplexen Mordfall in der NS-Zeit sowie Zeitreisegarantie.

"Es stank. In der Luft lag der Geruch von Tod und Verwesung. Ob er vom Tatort kam, der auf mich wartete, oder von der Stadt, konnte ich nicht entscheiden. Unter dem wachsamen Blick der deutschen Soldaten passierten wir im Durcheinander der Gleise einen toten Hund; die geschwollene Zunge hing ihm aus dem Maul, seine Augen waren panisch geweitet. Fliegen schwirrten auf und setzten sich wieder auf das verwesende Fleisch."

Éduard „Eddie“ Giral in „Die Toten vom Gare d’Austerlitz“, Seite 10

Werbung wegen Titel- und Verlagsverlinkung. Herzlichen Dank an den Suhrkamp-Verlag und Vorablesen für das Rezensionsexemplar. Der historische Kriminalroman erschien am 18. April 2021.

Darum geht’s

Sommer 1940. Hitlers Armee marschiert in Paris ein. Es herrscht eine finstere Atmosphäre in der Stadt der Liebe, als Kommissar Giral zum Bahnhof Gare d’Austerlitz gerufen wird. Er soll den Tod von vier Männern untersuchen, die erstickt in einem Bahnwaggon gefunden wurden. Die politischen Umstände erschweren die Ermittlungsarbeiten erheblich und Giral gerät immer mehr in Konflikte mit den Besatzern, insbesondere als der der deutsche Wehrmachtsoffizier Hochstetter die Aufsicht über die Pariser Polizei übernimmt.

Mein Leseerlebnis

Schon auf den ersten Seiten hat mich der Autor hineingezogen in seine dunkle, brutale und gleichzeitig faszinierende Version des besetzten Paris unter den Nationalsozialisten. Die Schrecken des ersten und zweiten Weltkriegs werden immer wieder deutlich und lassen die Leser*innen mit einer wiederkehrenden Gänsehaut erschaudern. Gleichzeitig stehen aber auch Unbeugsamkeit, (Galgen-)Humor, Widerstand und Mut im Fokus des Romans, sodass die atmosphärische Schwere an vielen Stellen durchbrochen wird und für heitere Augenblicke sorgt.

Verantwortlich dafür ist insbesondere Édouard „Eddie“ Giral, der Protagonist und ermittelnde Kommissar. Er ist ein völlig kaputter und labiler Charakter, der die Traumatisierungen aus dem ersten Weltkrieg noch nicht verwunden und seine Familie verloren hat. Er war drogenabhängig und ist mindestens noch alkoholabhängig sowie selbstmordgefährdet. Das macht ihn für die Pariser Gangsterwelt, aber auch für die Nazis, zu einem unkalkulierbaren Risiko, denn er fürchtet sich nicht vor lebensbedrohlichen Situationen. Trotz seiner psychischen Probleme ist er fähig mitzuleiden und sich empathisch in andere hineinzuversetzen. Dies macht ihn menschlich und sympathisch. Chris Lloyd hat einen sehr spannenden und vielschichtigen Protagonisten erschaffen, dem ich sehr gerne und fasziniert gefolgt bin.

Sprachlich hat mich der Roman ebenfalls völlig überzeugt. Die Szenen werden bildhaft und detailgenau beschrieben, wobei sich einer variantenreichen und ausdrucksstarken Sprache bedient wird. Dennoch ist der Roman leicht und locker zu lesen.

Der Kriminalfall ist sehr gut konstruiert und auf die Zeit zugeschnitten. Er wäre so nicht in der Gegenwart denkbar. Es macht für mich einen großen Reiz dieses Romas aus, dass es nicht einfach um die Aufklärung eines Tötungsdelikts in einer historischen Kulisse geht, sondern dass der gesamte Fall mit den historischen Ereignissen und Bedingungen verknüpft ist. Er wirkt dadurch glaubwürdig und realistisch. Durch die Komplexität des Falles war für mich nicht alles vorhersehbar und die Auflösung und das Ende haben mich überzeugt.

Fazit  ⭐️⭐️⭐️⭐️ +

DIE TOTEN VOM GARE D’AUSTERLITZ ist ein dunkler historischer Kriminalroman. Er wartet mit einem spannenden Protagonisten und einem komplexen Mordfall auf, die beide passgenau auf die NS-Zeit zugeschnitten sind, sodass die Leser*innen sich dieser Zeitreise nicht entziehen können. Ich empfehle das Buch allen Leser*innen historischer Krimis, die sich mit unsympathischen Protagonisten anfreunden können und vor brutalen Schilderungen nicht zurückschrecken.

Kommentare

hobble kommentierte am 23. April 2021 um 12:55

was fürs wunschnregal