Rezension

Mordserie in der Zeit zwischen den Weltkriegen...

Haarmann - Dirk Kurbjuweit

Haarmann
von Dirk Kurbjuweit

Bewertet mit 4 Sternen

Im Hannover der 1920er-Jahre verschwinden Jungs, einer nach dem anderen, spurlos. Steckt ein bestialischer Massenmörder dahinter? Für Robert Lahnstein, Ermittler im Fall Haarmann, wird aus den Gerüchten bald schreckliche Gewissheit: Das Deutschland der Zwischenkriegszeit, selbst von allen guten Geistern verlassen, hat es mit einem Psychopathen zu tun. Lahnstein, der alles dafür gäbe, dass der Albtraum aufhört, weiß bald nicht mehr, was ihm mehr zu schaffen macht: das Schicksal der Vermissten; das Katz-und-Maus-Spiel mit dem mutmaßlichen Täter; die dubiosen Machenschaften seiner Kollegen bei der Polizei; oder eine Gesellschaft, die nicht mehr daran glaubt, dass die junge Weimarer Republik sie vor dem Verbrechen schützen kann.
 

Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir,
mit dem kleinen Hackebeilchen,
macht er Schabefleisch aus dir.
Aus den Augen macht er Sülze,
aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste
und den Rest, den schmeißt er weg.

 

Ich bin sicher nicht die einzige, die dieses makabre Liedchen kennt. Bisher wusste ich jedoch wenig über den Fall an sich - wobei ich den Film / das Kammerspiel 'Der Totmacher' mit Götz George vor etlichen Jahren angeekelt-fasziniert geschaut habe.  

Der Titel des Buches impliziert, dass es hier vorrangig um den Serienmörder geht, und so war ich doch zunächst erstaunt, dass im Fokus des Geschehens der (erdachte) Ermittler Robert Lahnstein steht. Aus Bochum nach Hannover versetzt, soll er Licht bringen in die zahlreichen Fälle vermisster Jungen, von denen kein einziger wieder aufgetaucht ist.

Lahnstein selbst in ein Zerrissener, der wie die meisten anderen Deutschen auch im Verlauf des 1. Weltkriegs traumatische Erfahrungen machen musste und sich nun neu zu orientieren versucht. Seine neuen Kollegen zeigen sich alles andere als kooperativ - der alte Geist der Kaiserzeit zieht noch durch die Polizeiflure, und v.a. Lahnsteins Kollege Müller legt ihm Steine in den Weg, wo er nur kann.

Zugegeben: ich mochte Lahnstein als Charakter nicht sonderlich. Der Kampf mit seinen eigenen Dämonen nahm für meinen Geschmack phasenweise zu viel Raum ein, die Ermittlungen plätscherten zudem lange Zeit einfach vor sich hin, ohne dass auch nur ein Hauch an Dynamik hinzukam. Ein Junge nach dem anderen verschwand, ohne dass Lahnstein etwas ausrichten konnte.

Erst spät gab es eine Kehrtwende, und bis dahin tauchte der Leser ein in eine düstere Zeit der Nachkriegswirren, in die politisch-gesellschaftliche Unsicherheit, in den nur zögerlichen Wandel von Recht und Moral, in die wackeligen Gehversuche der Weimarer Republik. Dirk Kurbjuweit setzt nicht Haarmann in den Mittelpunkt der Erzählung, sondern die dunkle Seite dieser Epoche mit der Erkenntnis von menschlichen Abgründen allüberall.

Ein interessanter Ansatz, der zudem erklärt, wie es so lange dauern konnte, bis Haarmann überhaupt gefasst wurde. Kurbjuweit hangelt sich in seinem Roman eng an den tatsächlichen Fakten des Falles entlang: Protokolle, Schriftstücke, Dokumente - viele der genannten Unvorstellbarkeiten lassen sich im Internet recherchieren und bestätigen auch die teilweise absurd-skurrilen Ereignisse, die hier geschildert werden.

Der Schreibstil ist sperrig, die Schilderungen düster, die wörtliche Rede ist nicht markiert. Auch dies war für mich gewöhnungsbedürftig. Im Verlauf verschob sich meine anfängliche Bewertung von knappen drei  jedoch zu überzeugten vier Sternen, da ich finde, dass der Zeitgeist der damaligen Epoche hier hervorragend wiedergegeben und der Fall Haarmann passend in diesen Kontext eingebettet wurde. 

Sicher nicht der Kriminalroman, den ich erwartet habe. Aber ein überzeugendes Zeitdokument, das den Fall Haarmann abseits der grausamen Fakten auch aus einer anderen Perspektive beleuchtet und dabei auch die gesellschaftlich-politischen Umstände kritisch hinterfragt.

Überraschend anders...

 

© Parden