Rezension

Mutet erschreckend real an ...

Die Reinsten - Thore D. Hansen

Die Reinsten
von Thore D. Hansen

Bewertet mit 4.5 Sternen

~~Die Story ist alles andere als abwegig, wenn man sich mal ohne rosarote Brille ansieht, wo wir heute bereits stehen: Umweltzerstörung, Klimawandel, Überbevölkerung, Hunger, Krieg, soziale Ungerechtigkeit und zunehmende Digitalisierung prägen unseren Alltag.
 Ausgehend von dieser Situation hat der Autor eine Geschichte verfasst, in der ganze 150 Jahre nach der großen Katastrophe von 2041 erneut ein Umbruch ansteht.
„Askit“, eine künstliche Intelligenz, bestimmt die Geschicke der verbliebenen Menschheit. In wenigen imposanten Metropolen leben die sogenannten „Reinsten“ mit den „Angepassten“ zusammen.
 Askit sah die Ursachen für die selbstzerstörerische Lebensweise in der Natur des Menschen begründet, woraufhin er eine optimierte Rasse geschaffen hat: mit Hilfe von Gehirnimplantaten sind die Reinsten ganz nah mit ihm verbunden. Ihre Gefühle und Gedanken können kontrolliert und in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Sie werden anhand eines Punktesystems bewertet und nur die Besten unter ihnen erreichen ranghohe Posten, beispielsweise in der Wissenschaft.
 Eve Legrand ist eine Meeresbiologin, die kurz vor ihrer wichtigsten Prüfung durch Askit steht. Ihre Mutter gehört zu den „Angepassten“, die ohne Implantat leben, aber innerhalb der Gemeinschaft. Außerhalb der Metropolen gibt es kleine Kolonien, in denen sich Abtrünnige und Degradierte (Verstoßene) angesiedelt haben.
 Schon im Vorfeld der Prüfungen kommt es immer wieder zu seltsamen Situationen, die Eve nicht richtig einordnen kann. Und dann geschieht etwas, das ihr bisheriges Leben komplett aus der Bahn wirft: ausgerechnet sie, die den höchsten Punktestand aller Reinsten erreicht hat, wird von Askit degradiert. Gejagt von Drohnen und Kampfrobotern sucht Eve mit ihrer besten Freundin Adlin und deren Mann Samir erst einmal Schutz in einer der Kolonien, der ihnen nach anfänglichem Misstrauen auch gewährt wird. Weitere Reinste folgen, denn die Degradierungen betreffen viele der besten Absolventen.
 Was bezweckt Askit mit diesem Schritt? Hat er sich von seiner bisherigen Vorgehensweise abgewandt oder wurde die künstliche Intelligenz gar von einem Virus befallen, wie manche glauben?
 Eve und ihre Freunde erfahren von den Kolonisten vieles über die Vergangenheit, das alles bisher Geglaubte in Frage stellt. Was werden die Reinsten mit diesem Wissen tun?
 Askit hat seine Verbindung zu Eve allerdings nie wirklich getrennt, viel mehr wird ihr plötzlich bewusst, dass von ihrer Entscheidung der Fortbestand der Menschheit abhängt …

Die Geschichte hat mich schon auf den ersten Seiten sehr berührt und mitgerissen. Wir werden in eine neue Welt katapultiert, in der beinahe alle unsere heutigen Probleme gelöst scheinen. Aber der erste Eindruck trügt, denn hinter der Fassade brodelt es gewaltig.
 Zahlreiche Wissenschaftler arbeiten zusammen mit der künstlichen Intelligenz Askit daran, das Weltklima wieder auf ein Niveau zu bringen, das den Menschen auch außerhalb der geschützten Metropolen ein Überleben ermöglichen soll. Die Maßnahmen gegen die hohen Temperaturen und sich ausbreitende Wüsten tragen sichtbare Früchte, aber es gibt Zweifel, ob die Resultate dauerhaft sind.
 Das Buch regt zum Nachdenken an, es zeichnet eine Zukunft, die wirklich realistisch erscheint, was andererseits auch wieder sehr erschreckend ist. Können wir solche Entwicklungen überhaupt noch aufhalten oder haben wir unser Schicksal bereits besiegelt?
 Ebenso stellt sich die Frage, ob wir wirklich „besser“ wären, wenn wir unsere Emotionen im Griff hätten und Gefühle wie Wut, Neid oder ähnliches reguliert bzw. unterdrückt würden. In Askits Welt werden alle Menschen gleich behandelt: es gibt kein Arm und Reich mehr, alle haben den gleichen Zugang zu Bildung und Nahrung und müssen den gleichen Arbeitseinsatz für die Gemeinschaft leisten. Klingt erst mal sehr erstrebenswert, doch welchen Preis zahlt der Einzelne dafür? Wie wichtig ist eigenständiges Denken, welche Werte muss man höher ansiedeln?

Der Schreibstil ist flüssig und lebendig, das Buch hat mich schnell gefesselt, denn man kann sich alles sehr gut visualisieren.
 Eve ist eine Hauptperson, die zwar nicht auf den ersten Blick uneingeschränkt sympathisch wirkt, aber sie hat auch keine einfache Aufgabe – und sie wächst mit ihr. Neben ihr gibt es noch weitere glaubwürdig charakterisierte Figuren, die man gern ins Leserherz schließt.
 Im Laufe der Geschichte wird es verwirrend für die Beteiligten und auch ich hatte manchmal kleine Schwierigkeiten, dem Ganzen noch aufmerksam zu folgen und die verschiedenen Parteien und ihre Ziele auseinanderzuhalten. Doch am Ende werden die Hintergründe klar und alles ergibt Sinn.
 Das emotionale Dilemma, in dem sich Eve wiederfindet, wird nachvollziehbar geschildert. Sie ist hin und her gerissen zwischen ihrer Unterwerfung gegenüber Askit und ihrer wahren Identität als freier Mensch.

Das Buch hat mich bestens unterhalten und zum Nachdenken bewegt. Ich kann es nur weiterempfehlen!

Für eine weitere Auflage sollte der Verlag noch einmal die doch recht zahlreichen Schreibfehler korrigieren, sogar der Name „Thyron“ (Eves Mann) ist oft falsch geschrieben. Normalerweise erwähne ich dies in Rezensionen nicht, aber hier war es leider sehr gehäuft.