Rezension

Mutig und informativ - Der Weg in eine eigene Zukunft

Es war einmal im Fernen Osten - Xiaolu Guo

Es war einmal im Fernen Osten
von Xiaolu Guo

Bewertet mit 4 Sternen

Meine Meinung
Die Autorin ist lediglich fünf Jahre älter als ich, doch unsere beider Leben könnten sich nicht mehr unterscheiden als sie es tatsächlich tun. Ich bin ein Kind des Westens, sie des Fernen Ostens – Deutschland gegenüber China – krasser geht es kaum noch, wie mir nach dieser Autobiografie bewusst wurde.

Xiaolu Guo wird 2013 Mutter einer Tochter und mit diesem Ereignis holt sie die Vergangenheit wieder ein, die sie versucht hat von sich abzuschütteln. Sie selbst war Tochter einer Mutter, mit der sie jegliche Gefühle verbunden hatten, nur nicht Liebe. Mit ihrer Tochter wird es anders sein.

“Ich hielt sie ängstlich und ehrfurchtsvoll. So ist es gut, dachte ich. Dieses Kind wird hier Wurzeln schlagen. Meine Tochter wird mit beiden Beinen fest im Leben stehen. Ganz anders als ihre Mutter, das kulturell verwaiste, vagabundierende Bauernmädchen.” (S. 11)

Und so reisen wir mit der Autorin in ihre Vergangenheit zurück, an all die Plätze und in Situationen, mit denen sie Traurigkeit, Angst, Gewalt, Missbrauch aber auch Hoffnung ein neues Leben verbindet.

Durch diese Autobiografie habe ich viel über das damalige China in Verbindung mit dem politischen System, der Bevölkerung und des Umbruchs erfahren. Xiaolu ist das zweite und unerwünschte Kind zur Zeit der Ein-Kind-Politik. Gleich nach der Geburt wurde sie an ein fremdes, kinderloses Ehepaar abgegeben und dieses hatte sie nach zwei Jahren an ihre Großeltern weitergereicht. Wegen der Kulturrevolution war ihr Vater im Arbeitslager und ihre Mutter konnte sich scheinbar nicht um ihren älteren Bruder und Xiaolu alleine kümmern. Dass sie einen Bruder hat erfuhr die Autorin erst mit sieben Jahren, als sie endlich ihre Eltern kennenlernen und dauerhaft zu ihnen ziehen sollte.

Durch Erzählungen über ihre Großmutter, Mutter und die Beobachtung von anderen Frauen in ihrer Umgebung wird deutlich, dass Frauen nichts zu sagen haben. Sie gehören den Männern und haben zu tun was von ihnen verlangt und ihnen befohlen wird.

“Ich war noch nicht lange aus Shitang weg und erst acht oder neun Jahre alt, doch nach der Schule musste ich das Essen für die Familie kochen, die Wäsche waschen, den Boden wischen und die Hühner füttern.” (S. 98)

Doch Xiaolu lässt sich nicht unterkriegen. Sie erträgt die Vernachlässigung, den Hass und die Prügel ihrer Mutter, bildet sich weiter und schafft es als eine von 11 Studierenden an der Filmhochschule Peking zu werden, die aus einer Masse von 7000 Bewerbern ausgewählt wurden. Nun, fernab von Zuhause, blüht sie auf und bahnt sich ihren Weg, macht den Abschluss, doch die Zensur führt dazu, dass alle ihre Film-Drehbücher abgelehnt und nicht produziert werden. Ein Ausweg daraus war Bücher zu schreiben, von denen sie aber nicht sehr gut leben konnte. Erst als Autorin von Seifenopern schafft sie es etwas mehr Geld zu verdienen.

Am meisten imponiert mir an der Autorin, dass sie trotz allem immer weiter nach vorne geschaut, sich neue Ziele gesetzt und an der Verwirklichung dieser stringent gearbeitet hat. Sie wollte in den Westen und dort ist sie hingekommen. Mit nichts in der Tasche, sehr schlechten Englischsprachkenntnissen und doch ist sie heute eine angesehene Regisseurin und Autorin von Büchern, von denen einige in über 20 Sprachen übersetzt worden sind. Ebenso hat sie Preise für manche ihrer (Dokumentar)Filme gewonnen.

In ihrem Buch öffnet sie ihr Leben für die Welt und verarbeitet darin einige der schlimmsten Erlebnisse, die Kindern, Mädchen und Frauen widerfahren können. Sie versucht sich zu heilen. Großer Mut ist dazu nötig, wenn man so wie Xiaolu in der Öffentlichkeit steht.

Xiaolus Geschichte liest sich flüssig und leicht. Hin und wieder regte sie mich zur weiteren Recherche an, denn ich wollte mir einen noch intensiveren Überblick über das Gesagte verschaffen.

Das letzte Drittel zog sich etwas. Ihr Leben in England, zuerst in Baconsfield und dann in London, übte auf mich nicht mehr den Reiz aus, den ich empfand, als sie über China, ihre Familie und ihr Leben dort erzählte. Dieser Teil hätte für mich auch kürzer ausfallen dürfen.

Nach dem Tod ihres Vaters, der neben der Großmutter (Mutter des Vaters) als einziger Gefühle und Verbundenheit zur Autorin zeigte, starb auch ihre Mutter. Und damit waren die Fesseln der Vergangenheit gesprengt. Der Abschlusssatz von Xiaolu Guo berührte mich sehr und gleichzeitig freute ich mich mit ihr auf ihren neuen Lebensabschnitt.

“Anfang und Ende hatten sich getroffen. Meine Kindheit war vorbei, und ich fühlte mich endlich von der Bürde meiner Familie befreit.” (S. 366)

Fazit
Ein intensives, sehr persönliches Buch einer Frau, die sich nie aufgegeben hat. Sie trotzte der Geburtsordnung, dem Kommunismus, den Widrigkeiten und schuf sich ihre eigene Zukunft. Xiaolu Guo ist ein ganz besonderes Beispiel dafür, dass man sich aus manchen Zwängen befreien und sein Leben in die eigene Hand nehmen kann. Sie war als Kind elternlos, bis sieben Analphabetin, konnte nur den Dialekt der Region sprechen,  in der sie aufgewachsen war und doch schreibt sie heute in Englisch, in einer Fremdsprache, die sie erst mit dreißig richtig zu sprechen und schreiben angefangen hatte. Ein sehr lesenswertes Buch, das ich jedem ans Herz lege, der mehr über China erfahren möchte.