Rezension

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Mutterherzen

Die Verlorenen -

Die Verlorenen
von Stacey Halls

Bewertet mit 5 Sternen

Achtung, diese Rezension enthält Spoiler!
Ich greife einer Entwicklung vorweg, die sich nicht aus dem Klappentext ergibt, löse aber den Plot nicht auf. Anders kann ich nur leider unmöglich über das Buch berichten. 

In meinen Augen lohnt es sich trotzdem diese Rezension zu lesen!

Inhalt:

London 1754: Bess ist achtzehn und bettelarm, als sie nach einem One-Night-Stand mit einem vornehmen Geschäftsmann ungewollt schwanger wird. Ihr bleibt nichts anderes, als das kleine Mädchen, das sie neun Monate später zur Welt bringt, noch am gleichen Tag im „Foundling Hospital“ abzugeben. 

Das „Foundling Hospital“ ist ein Kinderheim, eines von der ganz besonders schönen Sorte, das von den Reichen der Stadt mit Spenden unterstützt wird. Die Kinder können dort ohne finanzielle Sorgen aufwachsen, es fehlt ihnen an nichts. Wenn die Mutter so weit ist und das Kind wieder zu sich nehmen will, muss sie für Kost und Logis aufkommen. Bess, die ihre Tochter sehr liebt, wartet sechs Jahre sehnsüchtig auf diesen Tag. Doch als er endlich gekommen ist, teilt man ihr mit, dass das Mädchen schon vor vielen Jahren abgeholt worden ist. 

Schneller als erwartet findet Bess heraus, was aus ihrer Tochter geworden ist. Sie lebt nun im Haus von Alexandra Callard, einer vermögenden Witwe, die sie für ihr eigenes Kind ausgibt. Bess schleust sich als Kindermädchen ins Haus von Mrs. Callard ein, um ihrer Tochter nah zu sein. Doch schnell findet sie heraus, dass die Callards nicht wie andere Menschen leben.

Meine Meinung:

„Die Verlorenen“ ist kein typischer historischer Roman. Ich kann mir die Geschichte gut in der Weihnachtszeit vorstellen. Lesen im Bett, mit einer Tasse heißer Schokolade und Adventsbeleuchtung am Fenster. 

Ich würde das Buch als eine Mischung aus historischem Roman, Weihnachtsmärchen und Thriller bezeichnen. Nein, nicht Weihnachtsmärchen, weil sie an Weihnachten spielt, sondern weil ich mir einbilde bestimmte Motive aus solchen Geschichten wiederzukennen. Das Waisenkind, die verlorene Mutter, das kalte London. Und ja, Thriller, denn gerade im Mittelteil wusste ich nicht, in welche Richtung die Geschichte sich drehen würde. Das liegt daran, dass sie in drei Abschnitte gegliedert ist. Den ersten erzählt Bess, den zweiten Alexandra und den dritten wieder Bess. Ich fand es sehr mutig von der Autorin, einen großen Teil der Geschichte aus der Perspektive der Antagonistin darzustellen. Aber gleichzeitig hat mir gerade das sehr gefallen, denn nur so hat man Alexandra wirklich greifen können. Wäre man nicht in ihrem Kopf gewesen, hätte man sie leicht für ein Monster halten können. Denn eines wird schnell deutlich: Alexandras Kopf ist ein dunkler, verzerrter Ort voller Furcht. Sie sieht die Realität anders als die meisten Menschen. Ich habe nicht damit gerechnet, in einem historischen Roman auf so viel Psychologie zu treffen. Sie ist eine sehr ambivalente Figur, aber die Autorin hat es geschafft, dass sie mir trotz allem sympathisch war. Durch Alexandras irrationale Wahrnehmung der Welt entsteht eine sehr besondere, unterschwellige Art von Spannung. „Die Verlorenen“ hebt sich damit von anderen historischen Romanen, die ich bisher gelesen habe, deutlich ab. 

Die Sprache der Geschichte trägt zusätzlich zu der teils düsteren Atmosphäre der Geschichte bei. Sie ist nicht klischeehaft historisch, dafür aber oft metaphorisch und wirkt an manchen Stellen seltsam modern, ohne dabei unpassend zu sein. Die Lebensumstände von Bess wurden sehr unverblümt dargestellt. Hier wird nichts romantisiert, sondern das raue Leben der Armen dargestellt. Ich bin froh, nicht in dieser Zeit gelebt zu haben. Und gleichzeitig freue ich mich, dieses außergewöhnliche Buch entdeckt zu haben, das ich schon nach kurzer Zeit kaum noch aus der Hand legen konnte. Das Ende habe ich als stimmig und befriedigend empfunden. An dieser Stelle zeigt sich dann nämlich wieder das Märchen. 

Fazit:

„Die Verlorenen“ von Stacey Halls lege ich euch im Mai als Weihnachtsgeschenk ans Herz. Man kann das Buch aber natürlich zu jeder Jahreszeit lesen. Es unterscheidet sich in meinen Augen deutlich von anderen Romanen seines Genres. Es geht um Mutterschaft und Liebe. Was ist eine gute Mutter? Was muss eine Mutter einem Kind geben können? Sicherlich vor dem Hintergrund einer anderen Zeit, aber ich glaube, dass man die Geschichte so auch in die heutige Zeit hätte setzen können. Mir hat es sehr gut gefallen.