Rezension

Mystisch mit einem bildhaften Schreibstil und vielschichtigen Charakteren

Herzmuschelsommer
von Julie Leuze

Bewertet mit 4 Sternen

Das Buch beschäftigt sich mit einer interessanten Thematik, zumindest habe ich zuvor kein Buch gelesen, dass sich mit dem versehentlichen Tausch von Kindern im Krankenhaus beschäftigt. Der sich daraus ergebene Konflikt zwischen den Eltern, mit denen man aufgewachsen ist, und den leiblichen wird hier sehr anschaulich dargestellt.
Kim fährt in die Bretagne, um ihre leiblichen Eltern kennenzulernen, die sich als offen und freundlich herausstellen, und die sehr bemüht sind. Ich bin trotzdem nicht ganz mit ihnen klargekommen, was daran liegt, dass sie mir ein bisschen zu bemüht waren. Das ist jedoch kein Kritikpunkt, sondern reine Sympathiesache und störte auch nicht den Lesefluss.

Das Buch ließ sich sehr flüssig lesen, sodass die Seiten quasi an mir vorbeiflogen und es mich irgendwann in seinen Bann zog. Dazu trägt auch bei, dass es sehr locker und humorvoll geschrieben ist. Zudem muss ich an dieser Stelle den Schreibstil hervorheben, der Bilder vor meinem inneren Auge beschwörte. Bilder von der malerischen Kulisse der Bretagne, den abgelegenen, naturbelassenen Wäldern, Steilküsten und Stränden sowie dem unberechenbaren, tosenden Meer und den alten Dörfern. 
Zudem bindet die Autorin auch bretonische Sagen ein, die dem Ganzen dann etwas Mystisches verleihen - und die auch eine gewisse Spannung schüren. Eine mystische, manchmal leicht unheilvolle Atmosphäre ist auf jeden Fall gegeben.

Zu Beginn wird man direkt in die Geschichte hineingeworfen, sodass einerseits keine Längen auftreten, andererseits die Informationen aber auch erst nach und nach gegeben werden. Manche Zusammenhänge werden auch in knappen Rückblicken erklärt, gegen Ende teilweise auch aus einer anderen Perspektive mit dem Er-Erzähler im Präteritum, was sich dann zudem aufgrund der Kursivsetzung von der üblichen Erzählweise im Präsens und aus der Ich-Perspektive abhebt.
Allerdings waren einige Aspekte nicht direkt neu und oft relativ vorhersehbar. Zum Beispiel wäre da die Tatsache, dass Kim eine Beziehung mit einem gut aussehenden, reichen Typen hat, mit dem aber nicht mehr so wirklich auf einer Wellenlänge ist.
In der Bretagne lernt sie dann Padrig kennen und allmählich entwickelt sich zwischen den beiden etwas, was recht süß ist und sich mitverfolgen lässt.

Kim hat außerdem eine Leidenschaft fürs Zeichnen, die in die Geschichte eingebettet wird und teilweise durch die Seiten spürbar wird. Sie gibt sich ihren leiblichen Eltern gegenüber Mühe, verschließt sich jedoch gegenüber der Frau, die sie aufgezogen hat, was angesichts der Umstände auch wieder nachvollziehbar ist.
Obwohl der Leser ihre Freundin Mia nur als Skypegesprächspartner kennenlernt, hat sie doch eine nicht unwichtige Rolle und ich fand es schön, dass dieser Freundschaft Platz eingeräumt wurde, weil dies authentisch ist.
Was alle Charaktere gemeinsam haben, ist, dass sie unglaublich vielschichtig sind und eine Schwarz-Weiß-Einteilung konsequent vermieden wird. Jeder Charakter hat positive wie negative Seiten und viele sind für eine Überraschung gut. Bei jedem wird nach Hintergründe für sein Verhalten gesucht, was ihnen Authentizität verleiht.

Fazit: Eine flüssig zu lesende, süße Liebes- und teils vorhersehbare Selbstfindungsgeschichte inmitten eines inneren Konfliktes in der Bretagne mit sehr vielschichtigen Charakteren, beschrieben mit einem Schreibstil, der Bilder vor dem inneren Auge und eine mystische, teils unheilvolle Atmosphäre erweckt