Rezension

Nach 230 Seiten abgebrochen...

Narbenseele - Jonathan Kellerman

Narbenseele
von Jonathan Kellerman

Narbenseele ist das letzte Buch, das ich 2016 angefangen habe - und leider auch das erste, das ich 2017 abgebrochen habe. 230 Seiten lang habe ich ihm eine Chance gegeben, doch letztendlich musste ich aufgeben.

Protagonistin ist Dr. Grace Blades, eine Psychologin mit einer sehr düsteren Vergangenheit. In ihrer Kindheit musste sie viel Schreckliches erleiden, was nicht spurlos an ihr vorbeigegangen ist. Die Frau, die die Heldin dieses Buches sein soll, ist in meinen Augen völlig verkorkst. Und total unsympathisch. Was an sich keine schlechten Eigenschaften für eine Romanheldin - oder Antiheldin - sind, wäre sie dabei wenigstens interessant. Aber auch das ist sie nicht. Grace Blades ist hoch intelligent, extrem arrogant, verbringt ihre Freizeit damit, fremde Männer zu verführen, hält sich für die beste in ihrem Job und geht mir wahnsinnig auf die Nerven. Aber interessant finde ich sie nicht.

"Grace warf sich ihren gelben Seidenkimono über und band sich ihre frisch gestylten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, dehnte sich ein paar Minuten lang und machte dann vierzig Damen-Liegestütze."
(Seite 57)

Über eine misslungene Protagonistin kann ich hinwegsehen, wenn mich die Thrillerhandlung mitreißen kann. Moment mal. Thrillerhandlung? Auf den 230 Seiten, die ich gelesen habe, habe ich die, ehrlich gesagt, vermisst. Ja, es gibt eine Leiche und ja, die Polizei wie auch Grace fangen an, zu ermitteln. Aber eigentlich macht der Plot hauptsächlich Sprünge in die Vergangenheit und erzählt uns, wie Grace aufgewachsen ist. Zuerst bei ihren Eltern, die sie selbst "die Fremden" nennt, dann bei diversen Pflegeeltern. Und natürlich war sie schon damals, als Kind, überaus clever und abgebrüht und hat sich mehr wie eine Erwachsene denn wie ein neunjähriges Mädchen verhalten. Wenn wir Leser uns nicht in der Vergangenheit aufhalten, erfahren wir mehr übe Graces Alltag. Über ihre Arbeit als Psychologin (und scheinbar ist jeder andere ein Quacksalber, nur sie weiß, wie man diesen Job richtig zu machen hat), über ihre Liebe zu ihrem Auto (und zum Rasen, wobei sie natürlich nie erwischt wird, selbst wenn die Polizei sie gerade erst überholt hat), über ihr fragwürdiges Sexleben. Sprich, wir erfahren Unmengen über eine narzisstische Psychologin mit Bindungsängsten.

"Grace küsste ihn hungrig und überließ ihm erst wieder die Kontrolle über seinen Mund, als er vollständig fertig war. Das war ein Ausdruck guter Umgangsformen. Sie hatte keine Verwendung mehr für ihn, denn sie war längst vor ihm fertig gewesen. Binnen Sekunden."
(Seite 51)

Aber selbst ein Buch, mit dessen Figuren ich nichts anfangen kann und dessen Plot mich eigentlich langweilt, kann mich noch fesseln, wenn es gut geschrieben ist. Manch einem mag der Schreibstil von Jonathan Kellerman gefallen. Mir gefällt er nicht. Zu trocken, zu nüchtern, zu distanziert und oft auch zu plump.

Vielleicht wird Narbenseele auch Seite 231 plötzlich spannend, vielleicht setzt dann endlich die lang ersehnte Thrillerhandlung ein. Das werde ich wohl nie erfahren, aber das macht mir auch nichts aus.

(c) Books and Biscuit