Rezension

NACH EINER WAHREN BEGEBENHEIT

Das Floß der Medusa
von Franzobel

Bewertet mit 5 Sternen

Manchmal macht die Jury zum Deutschen Buchpreis auch etwas richtig. Man muss schon etwas schlucken, weil dieser Roman nach guten Nerven verlangt. Wer aber so schreckliche Krimis liest, wie sie Mode sind, unnötig grausam, lüstern, verdorben und blutig pervers - der wird hier voll auf seine Kosten kommen, wenn auch "der Mörder" schnell ausgemacht ist. So hoffe ich, dass auch Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher hier zugreifen! Hier könnt ihr euch schön gruseln. Und alles ist fast so passiert.

Drei mal neun ist Donnerstag. Mit diesem kryptischen Satz für Nachgeborene beginnt „Das Floß der Medusa". Inmitten von allem Grauen der legendären Schiffsreise, ihrem Schiffbruch und den stümperischen Rettungsversuchen, sind der Esprit des Autors und seine begleitenden Kommentare während der Lektüre immer wieder rettender Mast oder Rettungsleine für den Leser, der je nach Veranlagung entweder mit Schnappatmung nach Sauerstoff verlangt oder nach dem Kotzkübel.

Sachverhalt: Am 17. Juni 1816 läuft ein französischer Schiffsverband bestehend aus der Loire, der Brigg Argus, der Korvette Echo und der Fregatte Méduse (Medusa) vom französischen Hafen Rochefort aus nach Saint-Louis, der Hauptstadt des Senegal, um die französische Kolonie von den Briten zurück, wieder in französischen Besitz zu nehmen. An Bord der Medusa ein Konglomerat von Menschen, 166 Seeleute, 161 Soldaten, 10 Artilleristen, 63 Passagiere, unter ihnen einige Frauen und Kinder. Keiner weiß, was ihn erwartet und das ist auch gut so.

Was erwartet die Menschen, von denen sehr viele, frohgemut winkend, ihrem vorzeitigen Tod entgegengehen? Die Konsequenzen politischer Entscheidungen!

Denn der Kapitän, Hugues Duroy de Chaumareys, ein eilter Geck, nicht nur unfähig ein Schiff zu führen, sondern auch zu eitel und dumm, um auf den Rat seiner fähigen Offiziere zu hören, wird einzig und allein aus Staatsräson, nämlich wegen seiner Königstreue auf den Posten berufen und nicht wegen seiner Fähigkeiten. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf und führt schnurstracks in die Katastrophe. Das Schiff Medusa läuft auf der Arguin-Sandbank vor der afrikanischen Küste auf Grund.

Auf einigen Beibooten und einem nicht seetüchtigen Floß versuchen die Menschen an Land zu gelangen. Besonders auf dem Floß, das mit 140 Leuten völlig überfüllt ist, herrschen bald ein gnadenloser Überlebenskampf und unmenschliche Zustände.

Was das Lesen dieses großartigen Romans so unerträglich macht und den Leser an seine Schmerzgrenze führt, sind nicht deftige Schilderungen dessen, was ein Mensch im Überlebenskampf alles zu tun bereit ist, sondern die Tatsache, dass mit ein wenig Kalkül, ein wenig Umsicht und Menschenverstand, die Katastrophe auch dann noch aufzuhalten gewesen wäre, als das Schiff schon aufgelaufen war. Ein vernünftiger Katastrophenplan und alles wäre glimpflich ausgegangen. Aber die Pläne, die die Offiziere aufstellen, werden von dem Kapitän und dessen Vertrauten sabotiert.

Dass es nachher keiner gewesen sein will und der Kapitän das Wort „Verantwortung übernehmen“ sozusagen gar nicht buchstabieren kann, erinnert fatal an bekannte, moderne Zustände. Am besten alles vertuschen und unter dem Deckel halten, solange es geht, meint der französische König. Auch das ist bekannt.

So schwankt der Leser zwischen Entsetzen und Ärger. Es hat sich nichts geändert. Auch wenn ihm, dem Leser, diese Floßfahrt erspart geblieben ist, sehe er zu, dass das große Schiff der Weltgeschichte nicht nach wie vor von völlig Unfähigen, zum Beispiel gelbhaarigen Blendern gesteuert wird.

Fazit: Bester historischer Roman, den ich je gelesen habe. Reisewarnung: Von Schiffsreisen ist dringend abzuraten. Franzobel hätte den Deutschen Buchpreis mit „Das Floß der Medusa“ sehr verdient. UNBEDINGTE LESEEMPFEHLUNG.

Kategorie: Historischer Roman.
Verlag: Paul Zsolnay Verlag, 2017
Shortlist des Deutschen Buchpreises, 2017 (Stand. 5.10.2017). Sieger?

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 06. Oktober 2017 um 09:20

EIne tolle Rezi! - ob ich mich dem aussetzen will, weiß ich dennoch nicht (siehe Schnappatmung und Kotzkübel).

LySch kommentierte am 06. Oktober 2017 um 10:04

Seeehr tolle Rezi! Ich bin echt nicht so der Fan von historischen Romanen - aber den mag ich total gerne mal noch lesen, klingt trotz dem Grauen sehr lesenswert!!

katzenminze kommentierte am 12. Oktober 2017 um 20:48

Super! Ich mag deine Rezi sehr! Ein schönes Fazit unserer Runde. ^.^

yvy kommentierte am 15. Oktober 2017 um 17:04

Awwww Wanda, tolle Rezi. Ich liebe sie, weil sie so treffend ausformuliert ist. Da möchte ich das Buch quasi gleich (nochmal) lesen. ;)