Rezension

Nachdenken über den Krieg

Fenster ohne Aussicht -

Fenster ohne Aussicht
von Dror Mishani

Bewertet mit 5 Sternen

Als Schriftsteller ist Dror Mishani Autor von Kriminalromanen, sein Protagonist Avi Avraham ist ein eher nachdenklicher Inspektor. Als nachdenklich-reflektiert, nach einem Sinn im Chaos suchend zeigt sich auch Mishani in seinem Kriegstagebuch "Fenster ohne Aussicht", das sich mit dem Privaten und dem Öffentlichen seit dem 7. Oktober befasst.

Mishani wurde während eines Literaturtreffens in Frankreich von der Nachricht über die Anschläge überrascht. Die ganze Dimension des Terrors war ihm da noch nicht klar. Dann die immer hektischere Suche nach einem Flug zurück nach Tel Aviv, zur Frau und den beiden Kindern. Und die bange Frage: Wäre es vielleicht besser, die Familie nach Europa zu holen? War es ein Fehler, aus Bequemlichkeit und im Bewusstsein einer womöglich falschen Sicherheit nie den Versuch unternommen zu haben, den Kindern einen EU-Pass zu verschaffen?

Mishani weiß: Die Antwort auf Terror ist in Israel stets Härte. Und trotz des Schocks über die zunehmenden Berichte über die maßlose Brutalität und Grausamkeit des Angriffs denkt er auf dem Rückflug nicht über Rache nach, sondern über einen offenen Brief, in dem er zum Innehalten appellieren will: "nicht reingehen, nicht in Schutt und Asche legen, nicht zerstören, nicht vernichten, sondern trauern, Shiva sitzen, Wunden verbinden und verbinden lassen.Und dann nachdenken. Zuerst einmal nachdenken. Nachdenken nicht nur darüber, wie wir angreifen sollen oder den nächsten Angriff verhindern können, sondern darüber, wie wir hier mit unseren Nachbarn leben wollen, auch mit unseren derzeitigen Feinden - was nicht alle sind, das dürfen wir nie vergessen."

Mishani schreibt als Wissenschaftler und Lehrer, als Vater, dessen fast 16-jähriger Sohn in wenigen Jahren womöglich selbst in einer Kampfeinheit ist, als ehemaliger Rekrut im Westjordanland, der glaubte, seine Pflicht tun zu müssen und dann um Entlassung aus dem Militärdienst bat. Er beobachtet, wie der Krieg die Öffentlichkeit wie auch die eigene Familie spaltet: Seine Tochter verfolgt in Dauerschleife Horrorvideos und verweigert sich Mitgefühl für die Zivilbevölkerung in Gaza, der Sohn zieht sich unpolitische Schlupfwinkel zurück, Premier League und Computerspiele. 

Wie mit den Kindern über den Krieg reden? Wie mit den verstummten Studenten im Kurs für literarisches Schreiben? "Aus der Sicht meiner Mutter ist die Teilhabe am Krieg durch das Anschauen von Videoaufnahmendes Massakers und den fortlaufenden Nachrichtenkonsum so etwas wie ein Initiationsritus im Israelisch-Sein für unbeschwerte Jungen und Mädchen, die gedacht haben, das Leben bestehe nur aus Katzenvideos auf TikTok oder Taylor Swift Songs", schreibt er nach einem Familien-Schabbatmahl in der frühen Zeit des Krieges.

Der Terror nimmt Mishani nicht die Fähigkeit, die Menschen auf der anderen Seite zu sehen, ihre Menschlichkeit und ihr Leiden. Er geht zu den Demonstrationen der Angehörigen der Geiseln, verfolgt  das Hoffen und Bangen um die Freilassung, die Enttäuschung, dass ein Deal für alle Entführten weiterhin nicht in Sicht ist. Polemische oder nationale Töne sind diesem Tagebuch völlig fremd, es ist eine Absage an Fanatismus, aber auch Fatalismus. Nachdenklich, reflektiert, verstört weiß Mishani, es muss doch noch einen anderen Weg geben. Und auch für ihn als Schriftsteller wird das Schreiben nun anders. Kann er in der aktuellen Lage Avi Avraham noch zum Ermitteln schicken? Welche Bücher braucht es jetzt?

Nach allem, was über den Terror vom 7. Oktober bekannt ist, wäre Hass eine einfache Reaktion. Mishani macht es sich aber nicht so einfach. Sein Buch sollte gerade von denjenigen gelesen werden, die Israel derzeit pauschal verteufeln - es gibt nicht nur das Israel von Benjamin Netanjahu. Und auch in Israel wären ihm viele Leser zu wünschen. Allerdings: Das Buch wurde gar nicht erst für eine hebräische Ausgabe geschrieben, sondern für die deutschsprachige Diogenes-Ausgabe.