Rezension

Nachdenkliche und Bewusstsein öffnende Lesestunden

Atemnot - Ilsa J. Bick

Atemnot
von Ilsa J. Bick

Zitat:
„In meinen Ohren herrschte Gebrüll, und ich musste die Augen zumachen. Ich fragte mich, wie stark ich wohl drücken müsste, bis Blut kam. Nicht sehr stark vermutlich.“
(S.39)

„Genau so, immer weiter und immer weiter. Sie bewarfen sich gegenseitig mit Dolchen, und die Luft platzte auf und heulte.“
(S.68)

„Ich fühlte mich so verloren, er brauchte mich nicht allzu lange zu überreden. Ich wollte auf gar keinen Fall allein da im Dunkeln stehen.“
(S.97)

Inhalt:
Hinter Jenna liegt eine schwierige Zeit. Eine sehr schwierige Zeit. Der Aufenthalt in der Psychiatrie hat sie zusätzlich geprägt. Doch nun soll sich alles ändern. Türen darf sie zwar noch immer nicht hinter sich verschließen. Denn zu groß ist die Gefahr eines Rückfalls. 
Nun jedoch soll Jenna auf die Turing-Highschool. So haben es ihre Eltern, oder besser gesagt ihr Vater, beschlossen. Ihr Lehrer, Mr. Anderson, hilft Jenna aufopferungsvoll bei ihrem Einstieg. Und tatsächlich scheint sich alles zum Guten zu wenden. Doch langsam weiß Jenna nicht mehr, was sie glauben soll. Der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt zusehends. Der Strudel dreht sich immer schneller und droht Jenna mitzureißen. Wenn sie nicht aufpasst, wird sie untergehen.

Meinung:
Einerseits stand „Atemnot“ ja schon auf meiner Leseliste. Andererseits konnte ich mich nicht wirklich entscheiden, ob ich zu diesem Buch greifen sollte. Kurzum, die Entscheidung wurde mir zum Glück abgenommen! Plötzlich lag „Atemnot“ nun also vor mir und verlangte, umgehend gelesen zu werden. Diesem Ruf konnte ich nicht lange widerstehen.

Und so schlug ich die erste Seite auf. Von da an war ich umgeben von depressiver Stimmung und Selbstzweifeln, die sich mehr oder weniger durch die gesamte Geschichte zogen. Anfangs fasziniert von dieser Stimmung, erreichte ich Perioden der Stagnation bis hin zur erneuten Faszination. Die Geschichte hielt für mich also eine ganze Bandbreite an Eindrücken bereit.

Trotz Einblicken aus Jennas Ich-Perspektive in Vergangenheit bleibt zumindest am Anfang eine gewisse Distanz gewahrt. Zu selbständig bzw. individuell sind Jennas Gedanken rund um ihr Leben. Lange Zeit war für mich nicht absehbar, wohin mich die Reise überhaupt führen würde. Doch irgendwann hatte ich den Punkt erreicht, an dem mir so einiges klar wurde. Durchdrungen von menschlichen Abgründen erhielt ich fortwährend so manche Antwort und konnte mich zunehmend mehr auf das eigentliche Geschehen konzentrieren. Ich fühlte des Öfteren einen gewissen selbstdarstellenden Touch, gewöhnte mich jedoch überraschend schnell daran und lernte, diesen zu akzeptieren. 

Jenna selbst ist zumindest ganz, ganz tief in ihrem Inneren richtig stark. Die traumatischen Ereignisse, die sie durchlebt hat, lassen diese Stärke jedoch in den Hintergrund geraten. Sie zweifelt an sich selbst, denkt immer, dass sie der Auslöser für negative Entwicklungen ist. Doch wenn man genauer schaut, ist genau das Gegenteil der Fall. Nachdem ich mich in der Geschichte eingefunden hatte, war mir Jenna trotz ihrer distanzierten und teilweise provozierenden Art sympathisch. Ich konnte mich in ihre Gedankenwelt einleben, wenn auch nicht immer durchgehend verstehen. Definitiv hatte sie Gründe, genau dieses Verhalten an den Tag zu legen. Und im Nachhinein verstehe ich ihre Beweggründe auch immer besser.
Aus meiner Sicht sendet die Protagonistin mitunter wirklich drastische Hilfe-Rufe, die sich allein schon in der immer wieder eingeflochtenen Ansprache an eine bestimmte beteiligte Person äußern. 

Ihre Geschichte präsentiert die Autorin in einer besonderen Form. Die Erinnerungen von Jenna wurden mir in einer Art Tagebuchstil vermittelt, so dass ich Vergangenheit und Gegenwart gut verknüpfen konnte. 
Ilsa J. Bick hat mit dieser Geschichte gezeigt, dass sie definitiv überraschen kann. Nein, es ist keine durch Spannung ausgezeichnete Story, und nein, ich raste nicht atemlos durch die Seiten. Das alles kann man hier eindeutig nicht finden. Doch der vielbesprochene rote Faden zog sich durchgängig durch die Geschichte und ließ mich so manche kleine Länge übersehen. Die zwischenzeitlich eintretende Vorhersehbarkeit beeinflusste mich nicht wirklich und rundet das Gesamtkonzept insgesamt ab. Menschliche Interaktionen, bewusst neutral und ohne direkte Benennung des Guten oder Bösen wirkten hier einen gewissen anderen Reiz auf mich aus. Der Gesamtheit der in der Geschichte beschriebenen Handlungen war es zu verdanken, dass ich im Endeffekt dennoch in ziemlicher Atemnot – allein schon aufgrund der spürbaren Atmosphäre - zurückblieb.

Für das Ende sollten sich zartbesaitete Leserinnen und Leser tränenaufnehmende Textilien bereithalten. Ich fand das Finale, nachdem die Dramatik wirklich nochmals in Höhen getrieben wurde, durchaus passend zur vorangegangenen Geschichte und kann das Buch nun mit diesem für mich befriedigendem Ausklang zur Seite legen.
 
Urteil:
Tragödie und Realität, gemischt mit einer Protagonistin, die grundsätzliche Stärken aufweist, deren Schwächen jedoch immer wieder die Oberhand gewinnen. All das war für mich „Atemnot“. Ich konnte die innere Zerrissenheit spüren und ließ mich mit dieser forttragen. Nachdenkliche und Bewusstsein öffnende Lesestunden, in denen ich oft an den Sinn des Lebens denken musste, verschafften mir ein knappes 4 Bücher Leseerlebnis.

Wer sich nicht auf Gut oder Böse festlegen will, dabei mitunter vorausschauende Entwicklungen akzeptieren und sich bedingungslos auf eine Geschichte einlassen kann, ist bei „Atemnot“ genau richtig. Alle, die der Meinung sind, dass das Leben nicht gerecht ist, sollten hier definitiv einen Blick riskieren. 

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