Rezension

Nachhall eines kurzen Lebens

Auf dunklen Pfaden - Merete Junker

Auf dunklen Pfaden
von Merete Junker

Bewertet mit 5 Sternen

"Auf dunklen Pfaden" gehört zu den Büchern, die ich erstmal ein paar Tage "sacken" lassen muss, bevor ich sie rezensiere. Nicht, weil es mir nicht gefallen hätte, ganz im Gegenteil! Sondern weil es wesentlich mehr Tiefgang bietet, als ich von einem Krimi für gewöhnlich erwarte.

Natürlich fiebert man als Leser der Auflösung entgegen, spinnt seine eigenen Theorien, warum der junge Arvo Pekka sterben musste, lässt sich überraschen von den schockierenden Wendungen... Aber zu der klassischen Krimi-Spannung kommt eine psychologische Spannung, ein düster-bedrückend-tragischer Sog, bei dem die Autorin mit viel Feingefühl die Hoffnungen, Träume, Ängste, den geheimen Groll und Neid ihrer Protagonisten vor den Augen des Lesers entfaltet. Das ist auf ganz eigene Art und Weise spannend, und ich habe das Buch kaum zur Seite legen können. Ich fand diese Mischung und den Stil der Autorin sehr packend und originell.

Eine ganz große Stärke dieses Krimis sind die Charaktere. Da haben wir natürlich den Jungen, der sich umgebracht hat, und dessen Leben auch mehr als genug Grund dafür bot: sein Vater hat seine Mutter brutal ermordet. Ist er nach all den Jahren letztendlich daran zerbrochen? Vor seinem Tod hat er an einem Film über sein Leben gearbeitet, aber der scheint verschwunden zu sein... Erst so nach und nach lernen wir als Leser, in Arvo Pekka nicht nur das Opfer, sondern einen bemerkenswerten Menschen zu sehen. Einer der Menschen, die ihm in seinem kurzen Leben am nächsten standen, war Aron Sturm, der Lehrer seiner Film-Klasse, und der ist ein sehr zwiespältiger Charakter - er sucht beinahe verzweifelt die Freundschaft seiner Schüler, und nachdem er mir deswegen erst suspekt war, habe ich nach und nach ein tiefes Mitgefühl für ihn entwickelt. Dann ist da natürlich die Journalistin Mette Minde, die eigentlich viel lieber Polizistin wäre - und sich sicher auch deswegen mit Leib und Seele in Arvos Fall stürzt, nicht nur aus Mitleid -, und nicht zuletzt gibt es noch die Zwillingsschwestern Idun und Ylva, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ylva ist die Beliebte, die auch zur angesagten Film-Clique und damit zum Umfeld von Arvo gehörte, und Idun ist die Brave, die immer in ihrem Schatten lebt.

Zwillinge und ihre Beziehung zueinander, das ist ohnehin ein Motiv, das sich durch das ganze Buch zieht. Auch die Mutter von Arvo Pekka war ein Zwilling. Mette Mindes kleine Söhne sind Zwillinge. Zwillinge: zwei Menschen, die einander am nächsten stehen sollten, es aber nicht immer tun - manchmal schlägt die Liebe zu dem Menschen, der beinahe ein Teil von dir ist, ins Gegenteil um. Gerade bei Idun und Ylva habe ich mich oft gefragt: wer ist hier der "gute", wer der "böse" Zwilling? Oder ist der Gedanke an sich schon Blödsinn, weil es im Leben nie so einfach ist?

Viele der Charaktere fand ich erst sehr verwirrend - jeder hat seine Geheimnisse, jeder hat mehr als ein Gesicht... Oft tut ein an sich anständiger Charakter etwas Fragwürdiges oder Selbstsüchtiges. Keiner ist 100%ig böse, keiner 100%ig gut. Die Autorin macht es einem nicht immer einfach, ihre Protagonisten zu mögen, aber sie wirkten auf mich immer glaubhaft, und sie waren mir nie egal - und das ist für mich das Wichtigste! Die anfängliche Verwirrung legte sich auch schnell.

Der Schreibstil hat mir wunderbar gefallen: er hat eine ganz eigene Stimme, die auch in spannenden, erschreckenden Szenen eine poetische Note hat, eine klare Ruhe, die dennoch nicht langweilig wirkt.

Fazit:
Der Krimi bietet intelligente Unterhaltung, in der das Zwischenmenschliche immer wieder im Mittelpunkt steht: die Abgründe hinter der Fassade, die Geheimnisse ganz normaler Menschen, die auf Abwege geraten sind. Die Charaktere sind komplex, der Schreibstil flüssig zu lesen und dabei alles andere als durchschnittlicher Einheitsbrei, und die spannende Handlung führt über Umwege zu einem Ende, das mich berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.