Rezension

Nachkriegszeit

Deutschstunde - Siegfried Lenz

Deutschstunde
von Siegfried Lenz

Bewertet mit 5 Sternen

Wann nennt man ein Buch einen Klassiker? Dazu gibt es im Netz unzählige Definitionen. Für mich ist es ein Buch mit einem gut ausgearbeiteten, allgemeinen Thema, das sich lohnt, mehrmals zu lesen. Ein Buch, das deutliche Einblicke in eine bestimmte Zeitepoche gibt und verständlich macht.

Die Deutschstunde von Siegfried Lenz gehört für mich eindeutig dazu. Was ich vor über 40 Jahren als Schullektüre vorgesetzt bekam, hat mich jetzt noch einmal sehr beeindruckt: Der 20jährige Siggi Jepsen lebt 1963 in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche auf einer Insel in der Elbe. Dort erhalten die jungen Männer auch Unterricht. In einer Deutschstunde steht das Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht“ auf dem Programm. Während die einen sich durch vorgespielte Ohnmachten um das Thema drücken, bleibt auch Siggi vor einem leeren Blatt sitzen. Doch bei ihm liegt es an der Fülle von Gedanken, die seinen Kopf füllen. Dankbar nimmt er die ihm zugedachte Strafe an: Er wird in eine Zelle gesperrt, wo er den Aufsatz in Ruhe schreiben kann. Er steigert sich in seine Aufgabe und weigert sich monatelang die Zelle zu verlassen, bevor er nicht seine gesamte Geschichte niedergeschrieben hat.

Der Leser lernt das Kind Siggi kennen, das den Vater, einen norddeutschen Dorfpolizisten auf dem Gepäckträger des Fahrrades bei der Arbeit begleitet. Der hat die Aufgabe, einem befreundeten Maler das "von oben" bestimmte Malverbot zu überbringen und dieses auch zu überwachen. Wie sehr das den Jungen prägt, erzählt Siggi in seinem Aufsatz („Mein Vater. Der ewige Ausführer. Der tadellose Vollstrecker.“) Ebenso schreibt er über seine älteren Geschwister und wie sehr sie unter der Strenge der Eltern zu leiden haben („Brauchbare Menschen müssen sich fügen“). Erschreckend ist, dass die Einstellung der Eltern auch nach Beendigung des Krieges erhalten bleibt. Besonders schockiert hat mich die Aussage der Mutter zu geistig behinderten Kindern, die in der Nähe untergebracht wurden: „Der Anblick, Siggi, kann ausreichen, dass man Schaden nimmt … Eindrücke, weißt du, die können sich festsetzen und den Blick trüben.“ Wie sehr Siggis Blick durch seine Erfahrungen getrübt wurde, erfahren wir in diesem ausgesprochen lesenswerten Roman.

Lenz malt mit seinen Beschreibungen Bilder und lässt Gefühle erkennen, ohne sie explizit zu benennen. Dieses Buch erinnert an die Beschaulichkeit alter Filme, in denen jede Szene dem Zuschauer Zeit lässt, in die Umgebung und das Geschehen einzutauchen. Das kann für Leser, die an die heute so schnelllebige Zappermentalität gewöhnt sind, das Lesen manchmal mühsam machen.