Rezension

Nachwendezeit

Stern 111 - Lutz Seiler

Stern 111
von Lutz Seiler

Bewertet mit 4 Sternen

30 Jahre ist die Wiedervereinigung her. Viel hat sich ereignet inzwischen. Oft weiß man gar nicht mehr, wie es damals war. Dank Lutz Seiler und seinem neuen Roman können wir noch einmal in die Zeit kurz nach dem Mauerfall schauen.

Das Ehepaar Bischoff, 50 Jahre alt, verließ wenige Tage nach der Grenzöffnung ihre thüringische Heimat und bat ihren Sohn Carl auf die bisherige Wohnung aufzupassen. „Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klammheimlich verschwunden und er einer der Übriggebliebenen war, ein Stück angefaultes Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit.“ (Seite 54)

Nach wenigen Wochen Einsamkeit suchte auch Carl das Weite und begab sich mit Vaters Auto nach Berlin. Dort irrte er durch die Straßen und schlief im Shiguli, bis er auf das „schlaue Rudel“ traf und in der ostberliner Hausbesetzerszene landete. „Solange die Häuser noch Volkseigentum sind, übernehmt sie, denn sie gehören EUCH“ (Seite 150).

Wie es den Eltern im Westen ergeht, erfährt der junge Mann, der davon träumt ein Dichter zu werden, aus den Briefen seiner Mutter. Allerdings lüftet sie lange nicht das Geheimnis, weshalb sie so armselig leben, obwohl der Vater gutes Geld verdient. Carl muss erstaunt feststellen, dass er seine Eltern kaum kennt.

Auch wenn das Buch so manche Länge aufweist, hat es mich vereinnahmt. Es zeigt so deutlich die damalige Verunsicherung der Menschen; das Durcheinander, weil keiner wusste, wie es weitergehen könnte. Dem gegenüber stand der Glaube daran, dass nun alles möglich sei. Sogar eine Reise nach Paris – die mir deshalb so gut gefiel, weil Carl mit seiner Freundin mitten in der Stadt im Auto nächtigte.

Wie ich aus diversen Interviews erfahren konnte, hat Lutz Seiler in diesem Roman Selbsterlebtes verarbeitet und somit ein Zeitdokument erschaffen, das zu Recht den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 16. April 2020 um 09:36

Feine Rezi. Dann ist Stern 111 sicher etwas leichter zu lesen als es Kruso war. Seiler schreibt eben besonders und was die Längen angeht .. ist gerade das oft das Literarische. (Weiß es aber net sicher in diesem Fall, da ja nicht gelesen bisher).