Rezension

"Nah oder fern gibt es nicht mehr, nur noch nah oder fremd"

Strom - Hannah Dübgen

Strom
von Hannah Dübgen

Zum Inhalt: In einem Interview sagte Autorin Hannah Dübgen, die Streifen auf dem Cover ihres Debütromans „Strom“ symbolisierten die vier parallel verlaufenden Handlungsstränge, „die sich nicht kreuzen, aber doch gemeinsam etwas Größeres ergeben“.  Meiner Meinung nach eine sehr passende Umschreibung des Grundkonzepts ihres Romans! Es geht um vier Protagonisten, die alle vom Strom des Lebens (kurz- oder langfristiger) aus ihrer Heimat fortgetragen wurden und von unterschiedlichen Dingen angetrieben werden.
Da ist Makiko, die japanische Starpianistin, die sich sehr für die japanische Musik in Europa einsetzt, sich jedoch nicht vorstellen kann, wieder in ihrer traditionsbehafteten Heimat zu leben. Sie führt ein unstetes Leben und reist von Konzert zu Konzert durch ganz Europa. Als sie feststellt, dass sie ungewollt schwanger ist, steht eine wichtige Entscheidung an.
Der Amerikaner Jason wird im Auftrag der Investmentfirma, für die er arbeitet, nach Tokio geschickt, um dort einen für das Unternehmen wichtigen Deal mit einem japanischen Traditionsunternehmen abzuschließen. Er ist der typische Vertreter der heutigen Karrieregesellschaft, dessen Heimat (zumindest für einen bestimmten Zeitraum in seinem Leben) seine Arbeit wird, in der es gilt, sich zu beweisen und zu verbiegen, um (hoffentlich) den angestrebten Platz auf der Karriereleiter zu besetzen.
Der Zoologe Luiz wiederum hat seine Heimat Brasilien verlassen und in Israel eine Familie mit Rachel gegründet. Mit ihr und seinen beiden Töchtern lebt er in Tel Aviv. So glücklich die Familie nach außen hin erscheint, so sehr reibt sich Luiz an den politischen Zuständen im Land und kommt immer weniger damit zurecht. Zusätzlich ist er in Rachels Großfamilie nie wirklich angekommen. Ablenkung und Bestätigung findet er nur bei seiner Geliebten Joana, die ebenfalls aus Brasilien stammt.
Die vierte Protagonistin Ada, eine Dokumentarfilme-Macherin aus Berlin, hat mit ihrer Freundin Judith einen Film über das Leben im Gazastreifen gemacht. Als kurz nach ihrer Rückkehr nach Berlin bei Judith ein tödlicher Hirntumor festgestellt wird, pflegt sie ihre Freundin bis zu deren Tod. Mit der Urne kehrt sie schließlich nach Gaza zurück, um dort die Asche der geliebten Freundin zu verstreuen.
Die Handlungsstränge im Buch werden parallel erzählt, doch nach und nach gelingt es dem Leser, eine Menge verbindender Elemente, die ein Netz zwischen den vier so weit voneinander entfernten Personen spannen, zu entdecken. Im Verlauf der Geschichte erscheint Israel immer stärker als das Zentrum der Geschichte, als der Ort, auf den sich alle vier Handlungsstränge kontinuierlich hin bewegen…
Eigene Meinung:  Hannah Dübgens Erstlingswerk lässt mich etwas zwiegespalten zurück. Für einen Debütroman fand ich die Gründlichkeit und Präzision, mit der die vier Geschichten erzählt und ineinander verwoben werden, sehr beeindruckend. Die verbindenden Punkte zwischen den vier Haupt-Handlungssträngen sind sehr gut platziert, mal offensichtlich, mal nur in kleinen Details zu erkennen und es hat mir beim Lesen sehr viel Spaß gemacht, die verbindenden Elemente im Buch zu entdecken. Die Tatsache, dass diese manchmal nur durch wie zufällig erwähnte Begebenheiten offenbar werden, führt dazu, dass man sehr aufmerksam liest und versucht, jedes Detail der Erzählung in sich aufzunehmen. Insgesamt ist der Autorin damit ein sehr gut konstruiertes Buch gelungen (wobei „konstruiert“ hier in keinster Weise negativ gemeint ist).
Gestört hat mich allerdings, dass den Figuren eine gewisse Tiefe fehlt, was mit Sicherheit zum Teil dem häufigen Hin- und Her-Wechseln zwischen den vier unterschiedlichen Plots geschuldet ist. Die Charaktere blieben für mich zum Teil sehr stereotyp, ich konnte sie leicht als Vertreter eines typischen „Protagonisten-Typs“ identifizieren (der Businessmann, die traditionell erzogene Asiatin, die sich mit dem westlichen Lebensstil identifiziert, der unzufriedene Ehemann, der das, was ihm fehlt, kaum artikulieren kann, die idealistische Weltverbesserin), sie blieben mir dabei jedoch fremd und ich konnte mich eigentlich mit keiner der vier Hauptfiguren wirklich identifizieren.

Im Gegenzug fand sich in einigen Kapiteln bezüglich der beschriebenen Rahmenbedingungen ein derartiger Reichtum an Details, dass das Lesen für mich dadurch abschnittsweise etwas langatmig wurde. Dass Jason der typische Businessmann ist, der angestrengt an seiner Karriere feilt und dabei bereit ist, sein ganzes Privatleben dem Unternehmen, für das er arbeitet, zu opfern, wäre mir auch ohne die ausführliche Positionierung der einzelnen Unternehmen, um die es hier geht, sowie deren Wechselwirkungen untereinander, klar geworden.
Die Verstrickungen der Familie Yukawa, insbesondere die Schicksale der beiden gegensätzlichen Cousinen Mai und Makiko haben die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen der japanischen/asiatischen und unserer europäischen Kultur sehr greifbar gemacht, die kurzen Episoden, in denen die Zusammenhänge beschrieben wurden, reichten für mich jedoch nicht aus, um einen Bezug zu den Charakteren zu entwickeln, zumal viele Familienmitglieder nur Randfiguren blieben und für den übergeordneten Plot keine zentrale Rolle spielen.
Ebenso ging es mir mit der geschilderten politischen Situation in Israel und den Palästinensergebieten. Einerseits war es sehr spannend, etwas über das Leben und die Atmosphäre in Israel, im Angesicht der ständigen Bedrohungslage und dem Netz engmaschiger Sicherheitskontrollen im Land zu erfahren. Dennoch erschien mir der Informationsgehalt, den die Autorin in manche Kapitel einbaut, zum Teil zu hoch und dem Lesefluss abträglich.  Zum Beispiel an der Stelle, als Ada mit der Asche ihrer Freundin Judith nach Gaza reist, um die sterblichen Überreste ihrer Freundin dort im Meer zu verstreuen und auf dem Weg dorthin jedoch beginnt, über die politische Situation und den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensergebieten nach zu sinnieren. Das fand ich in der beschriebenen Situation sehr unglaubwürdig und dadurch störend. Zusammen mit den beschriebenen Längen hat das für mich währen des Lesens zu einer relativ großen Distanz zu den beschriebenen Ereignissen und den unterschiedlichen Charakteren geführt.