Rezension

Natürlichkeit ad absurdum geführt

Hysteria -

Hysteria
von Eckhart Nickel

Bewertet mit 4 Sternen

Skurill, bizarr, schräg… Diese Wörter tauchen in vielen Rezensionen zu diesem Titel auf, und tatsächlich sind die Dinge in »Hysteria« alles, nur nicht normal oder natürlich. Künstlich dagegen ist hier vieles: Nahrung, Unterhaltung, Liebe.

Der hypersenible, leicht neurotische Protagonist stolpert mitten hinein in eine außergewöhnliche Dystopie, die sich Lewis Carroll, E.T.A. Hoffman und Franz Kafka bei einer gemeinsamen Tasse Tee hätten ausdenken können. Das ist hochphilosophisch bis grauenhaft – und dabei durchaus unterhaltsam.

Und alles beginnt mit merkwürdigen Himbeeren.

„Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“

Manchmal beschleicht einen das ungute Gefühl, dass die Geschehnisse in diesem Roman gar nicht so weit hergeholt sind. Vielleicht sind wir schon auf einem Weg, der mit Analogkäse, Ersatzschinken und aus Holz gewonnenen Aromaststoffen im Erdbeerjoghurt begann und mit den merkwürdigen Himbeeren in »Hysteria« endet…?

Hoffentlich nicht – aber zum Nachdenken kann es einen dennoch anregen.

Der Terror kommt ausgerechnet aus Richtung der »Zurück zur Natur«-Ideologen in Form der machthabenden »Naturpartei«.
Nachhaltigkeit und ökologische Achtsamkeit, das sind Ideen, die zunächst nach einem gesunden, wertvollen Gegenpol zu der eben erwähnten Künstlichkeit der Gesellschaft klingen, hier aber ins Absurde überspitzt werden.

Ich schreibe diese Rezension bei einer Tasse Kaffee, und damit hätte ich in der Welt des Buches bereits gegen das Gesetz verstoßen. Ach, sogar mit dem Frühstücksbrötchen befinde ich mich quasi schon im kriminellen Untergrund:

“Nahrung darf sich der Mensch nur noch aus Resten zusammensuchen, die Pflanzen abgestoßen haben und keine Verbindung mehr zu ihrem Organismus besitzen: Fallobst, von den Knospen gelöste Blüten, Gemüse, das lose auf Feldern liegt, Streugut, lose Blätter.”

Aus »natürlich« wird dabei »natürlich künstlich« – das eine lässt sich kaum noch vom anderen unterscheiden. Hier werden Grenzen überschritten, die Dystopie bewegt sich in die Gefilde des Schauerromans – nicht nur die Himbeeren entpuppen sich als Gewächse ungeahnten Schreckens. (Achtung: ein gewisser Ekelfaktor bleibt nicht aus!)

»Orthorektisch« nennt literaturkritik.de das Buch, und das ist sehr treffend. Als »Orthorexia nervosa« wird eine Essstörung bezeichnet, bei der der Betroffene sich dermaßen obsessiv mit der Qualität der Lebensmittel, die er zu sich nimmt, beschäftigt, dass es zu massiven psychischen oder physischen Beeinträchtigungen führt.

Der Schreibstil ist oft ähnlich überdreht und surreal wie die Handlung, schwankt zwischen sprachlicher Dekadenz und glasklarer Prägnanz. Gerade deswegen erreichen Handlung und Schreibstil jedoch eine sehr wirkungsvolle Symbiose. Nur die Dialoge sind für meinen Geschmack oft zu gekünstelt – aber auch das ist ja irgendwie passend für ein Buch, in der die Grenzen zwischen Kunst und Natur verschwimmen.

Für mich ist das größte Manko das Ende, bei dem sich manche Dinge dann doch zu glatt und wohlgefällig auflösen – dennoch ist »Hysteria« im Ganzen in meinen Augen ein sehr lohnendes Buch.

Auf zu einem olfaktorischen Trip in der Aromabar.

FAZIT

»Hysteria« ist eine quietschbunte und dabei doch dystopische Satire, eine Geschichte voller unerwarteter, oft absurder Wendungen. Was sich unter der ästhetischen Hochglanzverpackung versteckt ist abgründig: eine Verschwörung, bei der der falsche Bio-Wahn grauenhafte Formen annimmt.

Der Roman spart nicht mit Gesellschaftskritik, und vieles ist bei aller überspitzter Satire nicht weit entfernt von unserer Lebenswirklichkeit.