Rezension

Naturalistisch, realistisch und von einer tiefen Menschlichkeit durchzogen

Abendrot
von Kent Haruf

Holt - Kleinstadt in Colorado - Menschliche Schicksale - Hartes Leben in der Prärie - Mittlerer Westen - Familienprobleme - vernachlässigte Kinder - liebevolle Ersatzfamilien

Der amerikanische Autor Kent Haruf hat seine Romane alle in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado angesiedelt. In den Weiten der Prärie ist das Leben hart und manchmal trostlos. Hier leben - im bildlichen Sinne - die, die es nicht bis ganz in den Westen nach Kalifornien geschafft haben. Und denen auch der Elan oder der Mut fehlen, mehr aus ihrem Leben zu machen.

Im Sommer ist es heiss und staubig in Colorado. Im Winter kalt und trist. Die Menschen in dieser Gegend kennen es nicht anders. Die Weite der Landschaft, die Eintönigkei des Lebens, die eingeschränkter Verdienstmöglichkeiten, die mangelnde Abwechslung - all dies hat die Menschen geprägt. Sie stellen sich dem Leben, so wie es eben ist. Nur selten gibt es etwas mehr Licht im Leben. Wenn die Menschen miteinander reden, sich annähern oder einander helfen. 

So bemüht sich die Sozialarbeiterin Rose um ein Ehepaar, das sein Leben in einem armseligen Trailer fristet - und nichts auf die Reihe bekommt. Angefangen mit der Unfähigkeit, ordentliches Essen zuzubereiten oder den Wohnwagen aufzuräumen bis zur Unfähigkeit, die eigenen Kinder zu erziehen und zu beschützen. Die älteste Tochter wurde schon vor Jahren in Pflegefamilien gegeben - was wird mit den beiden jüngeren Kindern passieren? Und was wird aus DJ, einem Waisenjungen, der mit seinem Großvater zusammenlebt. der sich aber nicht um den Jungen kümmert sondern sich von ihm bedienen lässt? Kann DJ seine Freundschaft mit einem Nachbarsmädchen aus der Auswegslosigkeit holen? Doch deren Familie hat eigene Probleme, als der Vater die Mutter verlässt und diese in Alkohol und Depression versinkt.

Das alles hört sich jetzt furchtbar traurig an. Ist es auch. Aber trotzdem habe ich das Buch gerne gelesen. Das liegt am Schreibstil von Haruf. Er beschreibt - aber er richtet nicht - und er erläutert nichts psychologisch. Dies bleibt dem Leser überlassen - und so schafft es der Autor, dass man sich mehr Gedanken macht und das Geschehen näher an sich heranlässt. Und es gibt Lichtblicke. Und eine tiefe Menschlichkeit durchweht das Buch. Ja, das Leben ist hart. Und manchmal ungerecht. Aber es gibt auch schöne Seiten. Da sind die beiden Farmersbrüder, die vor einigen Jahren ein schwangeres junges Mädchen aufgenommen haben Und aus dem Mädchen, ihrem Kind und den Farmern ist inzwischen eine Wahlfamilie entstanden, die liebevoll miteinander umgeht. Da sind der Lehrer Tom und seine Freundin Maggie, die sich um die Menschen kümmern. Einzelne Personen kennt man noch aus dem Vorgängerband "Das Lied der Weitde". Wenn man dieses Buch gelesen hat, ist es ein wenig wie nach Hause kommen. Und jetzt warte ich gespannt darauf, dass der nächste Band auf Deutsch erscheint. Denn wie steht es so schön hinter auf der Umschlagseite: Es gibt keinen Grund, nach Holt zu reisen. Aber wenn man dort ist, will man nicht mehr weg. (Bernhard Schlink). So geht es mir auch. Diese traurig-melancholisch-schönen Geschichten aus einer Kleinstadt irgendwo im Nirgendwo des Mittleren Westens haben mich bezaubert.