Rezension

Nette Lektüre

Der erste Tag vom Rest meines Lebens - Lorenzo Marone

Der erste Tag vom Rest meines Lebens
von Lorenzo Marone

Bewertet mit 4 Sternen

Das Leben ist kurz und wird jeden Tag kürzer - Ermahnung in Erzählform.

Der erste Tag vom Rest meines Lebens. Ein schöner Roman von Lorenzo Marone. Durch Zufall entdeckt. Beim Googeln. Beeindruckend, dass das Buch nur ein Jahr nach seinem Erscheinen (2014) bereits ins Deutsche übersetzt wurde.

Das Cover ist ganz nett, der Titel im italienischen Original netter (Die Versuchung, glücklich zu sein (zu werden)), ausschlaggebend und am nettesten ist der Inhalt.

Protagonist ist der 77jährige Cesare, ein Soziopath, der sich selbst als Miesepeter und Zyniker tituliert und mit dem Altwerden hadert – streckenweise erinnert man sich an den 100jährigen, der aus dem Fenster springt. Cesare ist ein pensionierter Carabinieri-Feldwebel, der immer noch Prostituierte aufsucht (realistisch in dem Alter?), wobei ihn die 'blaue Pille' unterstützt. Zwischen Cesare und der Prostituierten Rossana entsteht eine Freundschaft. Unser Mann hat zwei Kinder, Sveva, seine Älteste, ist Anwältin (autobiographisch gefärbt, denn das war auch Marone, bevor er sich dem Schreiben widmete), hat zwei Kinder, u.a. Frederico, und geht ihrem Mann Diego fremd. Cesares Sohn Dante, ein Künstler, ist homosexuell. Die Eltern-Kind-Beziehungen scheinen kompliziert. Cesare ist seit 5 Jahren Witwer, seine Frau Caterina habe er nie geliebt. Dann ist da noch Cesares Freund Marino, der über 80 ist, im Haus wohnt und einige Lebensbürden zu tragen hat. Mit ihm kann man gut reden und seit dem ersten Tag ihrer Freundschaft schweißt das Lachen sie zusammen. Im Haus wohnen Eleonora, die Katzendame, und die attraktive Emma, um die Dreißig, die von ihrem Partner geschlagen wird. Cesare, der immer als Egoist galt, will gemeinsam mit Marino eingreifen, schaut hin, beweist Zivilcourage. Der Protagonist zieht seine Lebensbilanaz, mit durchaus wehmütigen bis traurigen Passagen, und behauptet, den größten Teil seines Lebens vergeudet zu haben. Nun solle alles anders werden, er wolle noch mindestens 10 Jahre leben. Die Anflüge von Bitterkeit überspielt Cesare mit Ironie: 'Sie (meine Tochter) kommt nur ungern her, zu viele Erinnerungen an ihre Mutter. Dass ich noch am Leben bin, spielt für sie kaum eine Rolle (90)'.Irritierend ist teilweise die stark negative Sichtweise auf sich selbst und den eigenen beruflichen Werdegang, sowie den Hass auf die verblichene Ehegattin, sodass der Protagonist Gefahr läuft, 'das Opfer zu spielen'. Spannend ist die Verfolgungsjagd Svevas. In Bezug auf all das Zwischenmenschliche, die gegenseitigen Abrechnungen und das Vorhalten von Verfehlungen, geht es streckenweise ans Eingemachte.

Sprachlich deckt Marone alle Register ab von Umgangssprache über Fäkalsprache bis hin zu wunderschönen Metaphern ('Man muss vorsichtig sein, mit dem, was man sagt, wie im Kreuzworträtsel: ein falsches Wort und alles gerät durcheinander (32)') und der Humor kommt auch nicht zu kurz.

In diesem Buch geht es um recht viel um Liebe und Hass, Treue und Verrat, um Alter und Tod, Schmerz und Trauer, um Opfer, Täter und Retter, um häusliche Gewalt, um Lebensbilanz und Carpe Diem, um Familiengeheimnisse, Schuld und Reue, um (Eigen-)Verantwortung und einen erneuten Aufbruch im Alter, um das Ja zum Leben trotz aller Widrigkeiten und schlussendlich um den Sinn des Lebens überhaupt.

Mir gefällt, dass nicht unbekannte Lebensweisheiten dem Leser noch einmal erzählend plastisch vor Augen geführt werden - Nicht aufregen! Lebe jetzt! Ergreife deine Chance. Besonders bewundernswert finde ich, dass ein Autor, der bei der Veröffentlichung des Romans knappe 40 Jahre alt ist, sich derart gekonnt in die Gefühls- und Gedankenwelt älterer Menschen hineinversetzen kann. Er wird entsprechende Gespräche geführt haben und /oder ein sehr guter Beobachter im Freundes- Verwandtenkreis sein.

Ich, almost sixty,  habe den Roman sehr gern gelesen und würde es wieder tun.