Rezension

Never let me go

Alles, was wir geben mussten - Kazuo Ishiguro

Alles, was wir geben mussten
von Kazuo Ishiguro

Bewertet mit 5 Sternen

"Alles, was wir geben mussten" ist ein vielfach für Auszeichnungen nominiertes und preisgekröntes Buch. Zu den Nominierungen gehören der renommierte "Booker Price", der "Arthur C. Clarke Award" und der "National Book Critics Circle Award". Gewonnen hat das Buch zum Beispiel den "Salon Book Award for Fiction", "ALA Alex Award" und den "Rooster Award" von "Tournament of Books". BookClubClassics.com listete das Buch in der Kategorie "Pushing the Boundaries of Reality" ("Die Grenzen der Realität ausreizen") als eines der "Best Books for Discussion", und das "Time Magazine" wählte es zum "Best Novel of 2005".

Im Jahr 2010 wurde das Buch verfilmt (mit Keira Knightly, Carey Mulligan und Andrew Garfield in den Hauptrollen), und auch der Film wurde von Kritikern positiv aufgenommen. 

Und dennoch ist es ein Buch, das die Gemüter spaltet. Trotz all der Preise sprachen manche Kritiker sogar von unerträglicher Langeweile und kaum zu überbietender Banalität.

Mich hat die Geschichte sehr zum Nachdenken angeregt, und obwohl ich durchaus nachvollziehen kann, warum es für manche Leser einfach nicht "funktioniert", hat es sich eingereiht in meine persönliche Liste der wichtigsten, herausragendsten Bücher unserer Zeit.

Auch wenn man das erwarten könnte, ist "Alles, was wir geben mussten" keine Zukunftsvision, sondern in unserer näheren Vergangenheit angesiedelt. (Nach der beschriebenen Technologie zu urteilen, würde ich sagen, die Geschichte beginnt in den 70er- oder 80er-Jahren.) Der Autor hat diese Vergangenheit nur leicht verändert, um wissenschaftliche Erkenntnisse und Verfahren, die wir heute tatsächlich kennen und anwenden, in einem beunruhigenden Szenario auf die Spitze zu treiben und zu fragen: was darf Wissenschaft?

Es ist eine ruhige, bedächtige Dystopie. Hier gibt es keine Zombies, und es gibt zwar eine kaltblütig ausgenutzte Minderheit, aber keinen Aufstand, keinen Aufschrei. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber das Buch wird erzählt von Kathy, einem Mädchen, das zu dieser Minderheit gehört - und das dennoch ein aktiver Teil dieses menschenverachtenden Systems ist, weil sie glaubt, dass es eben so sein muss und sogar gut und richtig ist.

Das ist für mich das wahrhaft Erschreckende an diesem Buch: hier werden Kinder in Internaten herangezüchtet, um klaglos ein schreckliches Schicksal anzunehmen. Das wird ganz perfide so gemacht, indem ihnen, während sie heranwachsen, häppchenweise erzählt wird, was sie erwartet - aber immer in einem Alter, in dem sie das jeweilige Häppchen noch gar nicht wirklich verstehen können. Auf diese Art und Weise haben sie es, wenn sie älter sind und es verstehen können, schon als ganz normal verinnerlicht. Ihnen wurde stets unterschwellig vermittelt, dass es sie zu etwas ganz Besonderen macht, es also sogar ein Grund ist, stolz und glücklich zu sein.

Kathy plaudert über Nichtigkeiten: das wunderschöne Federmäppchen, auf das alle Kinder neidisch waren, Teenagerstreitigkeiten, Unsicherheit über Sex und Liebe... Was Kinder und Jugendliche eben so bewegt. Das unvorstellbar Entsetzliche, das die Kinder erwartet, fließt immer nur am Rande mit ein - ganz beiläufig und sogar emotionslos. Für mich machte es das nur umso bestürzender, und ich konnte das Buch kaum weglegen. Hinter der Normalität, der Banalität verbarg sich für mich ein kaltes Grauen, das den Opfern selber aber gänzlich unbewusst ist.

Es geht in meinen Augen nicht nur über die Ethik der Wissenschaft, sondern es ist auch ein prägnantes, eindringliches Sinnbild der Sterblichkeit; auf eine gewisse Art und Weise kann man sich wiederfinden in diesen Kindern. Die Art und Weise, wie Kazuo Ishiguro diese Geschichte erzählt - ohne Drama, ohne großartigen Spannungsbogen - war für mich zwar gewöhnungsbedürftig, aber dennoch erstaunlich fesselnd und originell.

Die Charaktere wirken merkwürdig gedämpft, und als Leser fragt man sich: wie kann man solch ein Schicksal einfach hinnehmen? Wurden diese Kinder in irgendeiner Form manipuliert, um ihre Emotionen zu bremsen, oder ist hier einfach die eben erwähnte schleichende Konditionierung am Werk? Der Leser weiß nur, was Kathy weiß - und da Kathy sich ihrer eigenen Passivität nicht bewusst ist und daher solche Fragen nicht stellt, bleibt vieles ungeklärt.

Auch der Schreibstil ist gedämpft, manchmal beinahe monoton, denn Kathy erzählt  stets mit sanfter Gleichmütigkeit. In diesem Buch muss man sorgfältig zwischen den Zeilen lesen, um einen schwachen Eindruck davon zu gewinnen, wer Kathy und ihre Freunde in einer anderen Gesellschaft hätten sein können. Es ist in gewisser Weise auch ein Buch über die Tragik verpasster Chancen.

Fazit:
Trotz allem. Trotz allem hat mich das Buch bewegt, beschäftigt, begeistert. Oberflächlich gesehen ist es scheinbar eine Ansammlung von Nichtigkeiten, von Szenen ohne Dramatik oder emotionaler Wucht - aber zwischen den Zeilen verbirgt sich eine dystopische Welt, die in ihrer nüchternen Grausamkeit ihresgleichen sucht. 

Es geht um Kinder, später Jugendliche, die an einem scheinbar idyllischen Ort eine hervorragende Ausbildung genießen. Ihnen wird gesagt, sie sind außergewöhnlich, etwas ganz Besonderes, auserwählt. Für was sie auserwählt sind, das wird ihnen gesagt - und dennoch nicht gesagt. Kathy, die Erzählerin, beschreibt ihre Kindheit und Jugend und ihr derzeitiges Leben als Betreuerin derjenigen, die kurz vor der "Vollendung" stehen.