Rezension

Nevos freundlicher Blick auf die Menschen ist es, die jene zu Wort kommen lässt, die sonst schweigen und deshalb in Einsamkeit, Schuld oder Enttäuschung untergehen.

Über uns
von Eshkol Nevo

Bewertet mit 5 Sternen

Eshkol Nevo, Über uns, DTV 2018, ISBN 978-3-423-28131-7

 

Eshkol Nevo zählt seit langem zu den erfolgreichsten Schriftstellern in Israel. Viele seine Romane sind auch in Deutschland veröffentlicht worden und nicht nur der Rezensent schätzt seine unabhängige Stimme.

 

Sein neuer Roman beschreibt die Menschen, die in einem dreistöckigen Haus in einem bürgerlichen Vorort von Tel Aviv wohnen. Jedem Stockwerk und seinen Bewohner widmet er ein großes Kapitel und deckt deren Lügen und Selbsttäuschungen schonungslos auf.  Doch obwohl er in die dunklen Lebensecken der Bewohner sein grelles Licht richtet, bleibt er seinen Figuren gleichwohl wohlgesonnen. Er fühlt mit ihnen und richtet sie nicht. Und dennoch ist er überzeugt davon, dass sie so nicht weiteröleben können, wollen sie nicht am Leben völlig vorbeigehen.

 

Vom ersten bis zum  dritten Stock arbeitet sich Nevo durch dieses Haus, dessen Bewohner durch vielfältige Lebensfäden miteinander verbunden bzw. verstrickt sind.

 

Im ersten Stock des Hauses leben Ayelet und Arnon. Seit Ayelet mit der mittlerweile siebenjährigen Tochter schwanger war, haben die beiden Probleme mit ihrem Sexleben.  Nebenan wohnen Ruth und Hermann, ein älteres Ehepaar, die gerne auf die Tochter der jungen Nachbarn aufpassen, wenn diese mal wieder versuchen, ihre Probleme ins Lot zu bringen.

Arnon verdächtigt den etwas dementen Hermann, sich seiner Tochter ungehörig genähert zu haben. Doch was nach vielen Befragungen sich herausstellt, ist Arnons Problem mit seinem eigenen Liebesleben.

 

Chani ist eine frustrierte Frau, emotional vernachlässigt von einem permanent auf Geschäftseise weilenden Ehemann. Sie wohnt dort mit ihren beiden Kindern. Sie hat ein Verhältnis mit dem kriminellen Bruder ihres Ehemanns, das sie trotz aller Gefahren wieder zu sich selbst kommen lässt.

 

Im dritten Stock wohnt Dvorah, eine pensionierte Richterin. Sie lebt im Schatten ihres verstorbenen Ehemanns, von dem sie sich zu befreien sucht, indem sie ihm ihre Lebensbeichte auf den Anrufbeantworter spricht.

 

Seine drei Erzählungen über seine drei Protagonisten hat Eshkol Nevo an das Strukturmodell der menschlichen Seele von Sigmund Freud angelehnt.

Sehr warmherzig und dennoch schonungslos lässt Nevo seine Figuren die drei Instanzen Ich, Es und Über-Ich darstellen. Drei Menschen richten ihre Monologe an drei unterschiedliche Hörer. Menschen sind das, die in großes seelischer Bedrängnis sich befinden. Menschen, denen plötzlich, während sie sich redend zu öffnen versuchen, klar wird, dass etwas in ihrem Leben schief gelaufen ist. Alle drei sind sie an einem Punkt angelangt, der sie zwingt, zu reden.

 

Der Leser ist in der Zuhörerrolle, und weil die Geschichten der Protagonisten so voll sind mit Alltagserfahrungen, wird er sich in manchem wiederentdecken.

 

Nevos freundlicher Blick auf die Menschen ist es, die jene zu Wort kommen lässt, die sonst schweigen und deshalb in Einsamkeit, Schuld oder Enttäuschung untergehen.