Rezension

New Yorks merkwürdigstes Gebiet

Unorthodox - Deborah Feldman

Unorthodox
von Deborah Feldman

Bewertet mit 4 Sternen

New York ist eine weltoffene Stadt, Schmelztiegel vieler Nationen. Sie ruht weder bei Tag noch bei Nacht und schon gar nicht am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag. Wer in dieser Stadt überleben will, muss schnell sein und immer auf dem neuesten Stand.

Umso erstaunlicher ist es, dass mitten im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn, genauer in Williamsburg die chassidische Satmar-Gemeinde lebt, eine ultraorthodoxe jüdische Gruppe. Selbst orthodoxe Juden staunen über deren strengen Regeln und ihre Abschottung nach außen. Von dieser seltsamen Enklave berichtet uns Deborah Feldman mit ihrem Buch Unorthodox.

Feldman ist dort aufgewachsen, von ihren Großeltern erzogen, da ihre Mutter "verrückt" geworden ist und ihr Vater sich nicht um sie kümmern kann. Sie erzählt von ihrer Kindheit, wie sie zum gelehrten Großvater aufschaut und an seiner Hand wenigstens die Straßen in Williamsburg sieht und nimmt die Rolle der Großmutter, die ständig irgendwelche Speisen zubereitet als selbstverständlich hin. Sie ist zwar neugierig, aber ihre Welt ist streng reglementiert und noch fehlt ihr das Wissen um auszubrechen. Mit siebzehn wird sie in einer arrangierten Ehe verheiratet. Das scheinbare Glück, einen guten Mann abbekommen zu haben, zerplatzt bald an der Unfähigkeit die Ehe zu vollziehen. Eine Schwangerschaft im ersten Jahr bleibt aus, obwohl sie alle Regeln, die sie einhalten muss, um ihrem Mann überhaupt beiwohnen zu dürfen, befolgt hat.
Sie sucht sich medizinischen Rat, ja bezahlt sogar noch einmal eine Summe an die Heiratsvermittlerin, um das Glück heraufzubeschwören. Schließlich wird sie doch schwanger, bekommt einen Sohn, bricht aber bald danach aus der Gemeinde aus, um ein Leben abseits von widersinnigen Regeln und Unterdrückung zu führen und lebt inzwischen in Berlin, der Hauptstadt des Landes, das für die eigenwillige Satmar-Gemeinde den Ursprung für ihre Lebensweise gelegt hat:

Die Juden wurden mit dem Holocaust bestraft, weil sie sich im alten Europa versucht haben zu assimilieren. Ein überlebender Rabbi ist in die USA emigriert, gründete dort seine eigene Gemeinde und stellte über 600 Regeln auf, die von nun an von den Mitgliedern zu befolgen waren. Sie wurden dazu angehalten, Kinder in die Welt zu setzen, um den Verlust von Juden im 2.Weltkrieg auszugleichen. Es durften nur noch jüdische Bücher gelesen werden, den Frauen blieb jegliche Bildung vorenthalten, Tanzen und Singen vor Männern ist ihnen untersagt, Englisch ist die Sprache des Verderbens... und vieles mehr.

Ich habe gestaunt, wie es Menschen in New York schaffen, derart blind und taub für Wissen und Offenheit zu sein, wie es funktioniert, dass sich alle Mitglieder der Gemeinde an diese sehr ristriktiven Gesetze halten und nichts vom Rest der Stadt in dieses Gebiet sickert. Nur wenige schaffen einen Ausstieg, ein Großteil bleibt lieber im Schutz der Gemeinde und führen ein "gottgefälliges" Leben.

Deborah Feldmans Mutter war keineswegs verrückt, sie bekannte sich nur zu ihrer Homosexualität und wurde aus der Gemeinde verbannt.

Was anfangs noch kindlich-naiv erschien und fast meinen Unmut geweckt hätte, hat sich letztendlich doch zu einem großen Erstaunen entwickelt und unterstützt von Informationen aus dem Internet, kann ich jetzt sagen:" Respekt und Hut ab, zu soviel Mut, der Welt einen Einblick in dieses archaische Leben zu gewähren, deren Menschen einen Kontakt nach außen ablehnen. Meine Bewunderung für die Hartnäckigkeit, mit der die Autorin schon als Kind verbotene Bücher heimlich gelesen hat und dafür gekämpft hat, ein Leben wie ihre Protagonistinnen aus den Geschichten führen zu können."

Die absurden Regeln und Unfassbarkeiten, die Frau Feldmann beschreibt, kommen in einem ruhigen Ton daher, fast überliest man sie. Aber im Nachklang frisst sich das Buch in meine Gedanken.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 17. September 2018 um 08:27

Ein Kind nimmt immer erst mal an, was man ihm vorsetzt.

Steve Kaminski kommentierte am 17. September 2018 um 08:37

Aus dem Holocaust genau diese Folgerungen zu ziehen, ist schon sehr - extrem.

Emswashed kommentierte am 17. September 2018 um 09:09

Ich fand es einfach nur absurd, extrem verdreht... wie so vieles in dieser jüdischen Gemeinde!

Steve Kaminski kommentierte am 17. September 2018 um 13:35

Absurd sicher auch!

wandagreen kommentierte am 17. September 2018 um 11:17

So extrem gar nicht. Der biblische Gott hat sein Volk recht häufig für Abfall bestraft, Exil in Babylon etc etc.

Steve Kaminski kommentierte am 17. September 2018 um 13:43

Den Holocaust als Strafe Gottes für Assimilation zu sehen, das ist extrem und ver-rückt, im Wortsinn. Wobei der Holocaust ja erst recht verrückt war, d.h. alles Menschliche und Normale außer Kraft gesetzt hat.

Was der biblische Gott warum gemacht hat, das weiß man ja nicht so genau - nur wie Menschen dies erlebt haben. Wie auch immer - der Holocaust als Strafe, das wäre absurd und selbst ein Verbrechen.

wandagreen kommentierte am 17. September 2018 um 14:40

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sehr viele Juden in den KZs diese Sicht hatten. Ein Nichtjude darf das natürlich nicht sagen und ich glaube auch keineswegs, dass es so ist, aber man hat es häufig gehört.

Emswashed kommentierte am 17. September 2018 um 15:44

Aber es ist schon dokumentiert, dass viele erstaunlich ruhig in den Tod gegangen sind.

Steve Kaminski kommentierte am 17. September 2018 um 19:30

Ich weiß, dass der Holocaust ein Problem jüdischer Theologie ist. Und dass der "Holocaust als Strafe" selbstverständlich nicht akzeptiert wird. Hans Jonas hat z.B. in einem Buch versucht zu erklären, dass Gott den Holocaust zugelassen hat - das reicht ja auch völlig!

Zu dem, was Du schreibst, kann ich jetzt nichts sagen, d.h. ich kann es nicht ausschließen. Es ist schon länger her, dass ich in diesem Themenbereich einiges gelesen habe.

wandagreen kommentierte am 17. September 2018 um 14:41

Klar weiß man das: man muss nur das AT lesen.

Emswashed kommentierte am 17. September 2018 um 15:41

Ich glaube tief in uns allen sitzt dieser Urglaube, dass widerfahrenes Unglück mit dem eigenen Missverhalten zusammenhängt. Wir haben doch alle als Kinder diese Sprüche gehört: Wenn Du nicht aufisst, bekommen wir schlechtes Wetter usw. Klar ist das Unsinn, aber geprägt werden wir davon trotzdem. Im Holocaust-Fall ist es aber schon eine Sache für den Psychiater, denke ich.

Steve Kaminski kommentierte am 17. September 2018 um 19:37

Die Vorstellung von einem Gott, der sein Volk liebt, wäre damit ad absurdum geführt. - EIn bisschen erinnert mich das, was Du von dieser jüdischen Gruppierung und ihrem Rabbi schreibst (das Buch kenne ich nicht), an Baldwin, Von dieser Welt, das ich gerade lese: eine christliche Gruppierung, die ihre Mitglieder dazu erzieht, nicht nach draußen zu gehen: kein Kino, kein Kontakt mit der Gesellschaft draußen (wobei hier der Rassismus der weißen Amerikaner hinzukommt): alles, was nicht dem Gebet zu Gott in der Gemeinde dient, alle anderen Freuden sind des Teufels - innere Sicherheit durch Abschottung.

Emswashed kommentierte am 18. September 2018 um 07:31

Diese Satmar-Gemeinde wird auch mit Sektentum in Verbindung gebracht. Aber die Amerikaner (USA) sind in dieser Beziehung sehr tolerant, da darf jeder machen was er will, seine Kinder zu Hause unterrichten, Waffen tragen... solange Amerika nicht in Gefahr ist.

wandagreen kommentierte am 18. September 2018 um 10:06

Die Satmar Gemeinde ist eigentlich keine Sekte, obwohl sie natürlich in ihren Verboten, nach aussen zu gehen, sektiererisch auftreten. Die Amish sind auch keine Sekte.

Steve Kaminski kommentierte am 17. September 2018 um 21:24

Einige Sätze zum Thema, aus der Sicht eines Juden, der den Holocaust erfährt: "Nun kann ich nicht sagen - nach all dem, was ich miterlebt habe -, daß meine Beziehung zu Gott sich nicht geändert hätte. Mit absoulter Sicherheit kann ich aber wohl sagen, daß mein Glaube an ihn sich nicht um Haaresbreite verändert hat. Früher, als es mir gutging, war meine Beziehung zu ihm wie zu einem, der mich ohne Unterlaß beschenkte - und dem ich dafür ständig etwas schuldig blieb. Jetzt ist meine Beziehuhng zu Ihm wie zu einem, der auch mir etwas schuldet: viel schuldet. Und weil ich fühle, daß auch er in meiner Schuld steht, darum, denke ich, habe ich das Recht, Ihn zu mahnen. Ich sage aber nicht wie Hiob, daß Gott seinen Finger auf meine Sünde legen soll, damit ich weiß, wofür ich dies verdiene. Denn Größere und Bessere als ich sind fest überzeugt, daß dies jetzt keine Frage von Strafen für Sünden und Vergehen mehr ist. Etwas ganz Besonderes geht vielmehr vor auf der Welt, und es hat einen Namen: Hastores Ponim - das heißt: Jetzt ist die Zeit, da Gott Sein Gesicht verbirgt."

"Das heißt aber nicht, daß die Frommen meines Volkes die Verfügung nun einfach gutheißen und sagen müssen: 'Der Herr ist gerecht, und Seine Entscheide sind richtig,' Zu sagen, daß wir die Schläge verdienen, die wir empfangen haben, heißt, uns selbst zu lästern. Es ist eine Schmähung des Schem Hameforasch: eine Schmähung Seines Heiligen Namens - eine Entheiligung des Namens 'Jude', eine Entweihung des Namens 'Gott'. Es isnt eins und dasselbe. Gott wird gelästert, wenn wir uns lästern."

Aus: Zvi Kolitz, Jossel Rakovers Wendung zu Gott, Berlin: Volk und Welt 1996, S. 21 f. u. 23.
 

Emswashed kommentierte am 18. September 2018 um 07:43

Ich habe gesehen, dass Du auch ein Buch "Chassidismus, ein Fest für das Leben" von Elie Wiesel zu Deinen Favoriten zählst, da müssten dann auch ein paar Grundgedanken zu dieser Denkweise mit dabei gewesen sein (hoffe ich, kenne aber das Buch nicht). Mir aber war diese Form des ultraorthodoxen Judentums überhaupt nicht bewusst. Ja, bei den Christen gibt es auch ein paar extreme Formen, aber die habe ich besser "auf dem Schirm".

Steve Kaminski kommentierte am 18. September 2018 um 08:59

Vielleicht komme ich auch mal dazu, das Buch von Frau Feldman zu lesen - es scheint sich ja zu lohnen. Wahrscheinlich gibt es ja auch unterschiedliche Spielarten von "orthodox", und die dort beschriebene scheint schon extrem zu sein!

In dem Buch von Elie Wiesel zum Chassidismus geht es um chassidische "Meister", um Zaddikim, und um ihr Verhältnis zu den Chassidim, alles vor dem Holocaust. Er beschreibt chassidische Religiosität und unterscheidliche Charaktere der Zaddikim - fröhliche und äußerst düstere. Jedenfalls hat dieser Chassidismus - die jüdische mystische Bewegung, die von Israel ben Elieser, dem Baal-schem-tow begründet wurde - nichts mit Sekten wie der bei Frau Feldman zu tun.