Rezension

Nicht der Norm entsprechend

Die Tanzenden - Victoria Mas

Die Tanzenden
von Victoria Mas

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Buch welches uns in die Salpétriére ins Paris von 1885 mitnimmt. Uns schockiert, begeistert aber im Ganzen überrascht. Lesehighlight!

Geneviéve arbeite 1885 in Paris, in der Salpétiére, einer Anstalt für Frauen. Frauen die verrückt sind, die ihre Ticks und Splins haben, die depressiv oder verrucht sind, Frauen die einfach nicht tragbar sind und unter unterschiedlichsten Gründen hier gelandet sind. Louise ist schon länger Insassin und hat einiges erleben müssen, vor allem Ablehnung und Missverständnis. Geneviéve versucht die Frauen unter Kontrolle zu halten, gerade jetzt als die alljährliche Ballnacht ansteht in der die Frauen auf die Pariser Elite trifft…aber Eugénie, der Neuzugang, bringt Geneviéve komplett aus dem Konzept…

"Sie denken an die Gäste, die Pariser Elite, die sich freut, die Irren einmal von Nahem zu erleben und die Irren freuen sich nicht minder, dass man sie endlich einmal anschaut, sei es auch nur für ein paar Stunden." (Seite 74)

Diese Buch entspricht nicht der Norm, das vorweg. Womöglich wäre noch eine Triggerwarnung angebracht, aber das muss jeder selbst für sich herausfinden. Es gibt große Diskussionen dass das Cover zu „leicht“ und „unbeschwert“ für diese Art der Geschichte ist. Das mag so sicherlich sein, aber gleichzeitig ist es das Bild was auf die Frauen passt die in der Salpétiére zugeschnitten ist, und um diese Frauen alleine geht es.

Der Schreibstil ist leicht, locker, manchmal sogar humorvoll, ganz ungewöhnlich für ein Thema wie dieses, aber es nimmt diesem Buch gleichzeitig eine erdrückende Schwere, man kann es leichter zur Seite legen, darüber nachdenken, den Kopf schütteln, sich aufregen, ärgern und einfach dankbar sein in der heutigen Zeit leben zu dürfen.

Die bildhafte Beschreibung macht dieses Leseerlebnis sehr intensiv, man hat ein inneres Kopfkino und kann sich viele Umstände, Umgebungen, Menschen und Geschehnisse vorstellen.

Es geht um die zwei Frauen Geneviéve und Eugénie.

Geneviéve lebt alleine und zurückgezogen, für sie war schnell als Kind schon klar dass sie in die Medizin, in die Wissenschaft möchte. Heute ist sie leitende Oberschwester in der Salpétiére. Aber durch eigene Schicksalsschläge ist sie kühl, zurückhaltend und distanziert geworden. Im Lauf der Geschichte erhalten wir einen Einblick warum es ihr so ergangen ist und was sie bewegt. Ihre Verwandlung und ihren Mut fand ich auf jeden Fall bemerkenswert.

Eugénie steht für die Oberschicht in Paris, für die Pariser Elite. Für die Frauen zu der damaligen Zeit mit ihren mehr Pflichten als Rechten. Durch sie erhält man den Blickwinkel wie schwer es damals als Frau war den eigenen Weg überhaupt gehen zu dürfen, dass jedes falsche Wort oder Blick Abstrafung oder Einweisung in die Salpétiére bedeuten konnte. Mit ihr bekommt das Buch einen, ja mystischen, interessanten Punkt den der eine Leser toll findet, der andere Leser wird genervt sein.

Louise steht für die vielen Frauen in Paris die in die Salpétiére eingewiesen worden sind. Die Schicksale ähneln sich, sie zeigen auf was Frauen, die nicht in das Gesellschaftsbild passen, passieren konnte bzw. passiert ist. Jedes einzelne Schicksal bewegt, macht wütend, schockiert und lässt einen immer wieder innehalten.

Einfacher Stoff ist dieses Buch, trotz seines Titels und schönen Covers ganz gewiss nicht. Es ist ein Stück Zeigeschichte in das Paris von 1885, als Frauen keine wahren und wirklichen Werte hatten. Die Methoden der Salpétiére werden ebenso beleuchtet und aufgezeigt, auch was die Ballnacht für alle bedeutet – für die Pariser Elite, für die Mädchen in der Salpétiére, welche Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Sorgen damit verbunden sind.

"Ich bezweifle, dass ich bald entlassen werden, ob überhaupt irgendwann. Ich bin den größten Teil meines Lebens draußen gewesen und habe mich nicht frei gefühlt. Die Sehnsucht muss ich woanders erfüllen. Darauf zu warten, dass man befreit wird, ist ein vergebliches und unerträgliches Gefühl."( Seite 233)

Für mich, trotz seiner Thematik oder gerade deswegen, ein Must Read für 2020 und ein wahres Highlight für mein Lesejahr!