Rezension

Nicht ganz so märchenhaft zwischen den Buchdeckeln

Mein Herz zwischen den Zeilen - Jodi Picoult, Samantha van Leer

Mein Herz zwischen den Zeilen
von Jodi Picoult Samantha van Leer

Delilah zählt zu den Mädchen, die nicht gerade beliebt sind in der Schule, und vergräbt ihre Nase lieber in einem Buch. In letzter Zeit ist ihr ständiger Begleiter ein Märchenbuch, das sie in der Schulbibliothek entdeckt hat und mit deren Hauptfigur sie sich gut identifizieren kann, weil er wie sie ohne Vater aufgewachsen ist. Delilah ist fassungslos, als genau diese Märchenfigur, Prinz Oliver, ihr durch das Buch eine Nachricht zukommen lässt und sie um Hilfe bittet – und er kann es kaum glauben, dass einer der Leser aus der Anderswelt ihn tatsächlich hören kann. Denn Oliver ist schon lange unzufrieden mit seinem Leben und möchte seinem Märchen entkommen, in dem er nur eine Rolle spielt sobald das Buch aufgeschlagen wird, doch noch nie konnte ihn jemand über die Buchseiten hinweg verstehen. Delilah ist längst von ihrem fast Fleisch gewordenen Prinzen hingerissen und auch Oliver findet sie viel hinreißender als die Prinzessin, die er in seinem Märchen immer retten und küssen muss. Gemeinsam versuchen sie, die Grenze zwischen ihren Welten zu überwinden, um zusammen sein zu können.

„Was ist, wenn du und ich füreinander bestimmt sind?“, fragte sie. „Was, wenn irgendeine höhere Macht – Schicksal, Bestimmung, irgendwas – Jessamyn Jacobs dazu getrieben hätte, diese Geschichte zu schreiben, weil wir uns sonst nie kennengelernt hätten?“
- Mein Herz zwischen den Zeilen, S. 137

Was machen die Charaktere in Büchern, wenn das Buch gerade nicht gelesen wird? Der Roman von Jodi Picoult und ihrer Tochter, der selbst fast an ein Märchen erinnert, basiert auf einer interessanten Idee, die in ihrer Umsetzung jedoch leider recht schwach ist. Sicher muss man Jodi Picoults übliche Romane außen vorlassen, wenn man nach diesem Jugendbuch greift, man kommt während des Lesens dennoch nicht ganz umhin, gewisse Parallelen zu ziehen und enttäuscht einige Unstimmigkeiten in dem Buch zu registrieren, die dem sonst so sorgfältigen, gründlich recherchierten Stil von Picoult widersprechen. In einem Buch mit fantastischen Elementen kann man selbstverständlich nicht immer Erklärungen für alles fordern, teilweise wirkt es jedoch so, als hätten Picoult und ihre Tochter sich ihre erdachte Märchenwelt immer so gedreht, wie sie sie gerade gerne hätten – da wird einmal behauptet, dass die Märchenfiguren beim Aufschlagen des Buches ihre Erinnerung verlieren oder dass alles in der Geschichte auf den Anfang zurückgesetzt wird, doch dann gibt es wieder Momente, wo dem nicht so ist. Die Lösungen hierfür wirken eher willkürlich denn gut gewählt. Auch dass Oliver teilweise neumodische Dinge und Begriffe wie Feuerlöscher oder Hubschrauber kennt, aber dann nicht weiß, was Sandwiches oder ein Föhn sind und der Meinung ist, dass Delilah sehr freizügig gekleidet ist, artet in einen großen Widerspruch aus, der einem leider ins Auge fällt, weil das Buch auch nicht ganz so zu fesseln vermochte, dass man darüber hinwegsehen konnte, was an dem sehr einfachen, jugendlichen Schreib- und Erzählstil liegen mag, der die Seiten zwar nur so dahinfliegen lässt, aber keine fundierte Geschichte bietet. Die Ereignisse überstürzen sich geradezu, kaum haben Oliver und Delilah sich kennengelernt, erblühen auch schon die ersten Gefühle zwischen ihnen, die man als Leser überhaupt nicht nachvollziehen kann, weil sie hauptsächlich darüber geredet haben, wie sie Oliver aus dem Buch herausbekommen. Die Liebesgeschichte der beiden bleibt bei den zahlreichen Versuchen, die sie unternehmen, um Oliver in Delilahs Welt zu holen, leider auf der Strecke und kommt auch gegen Ende des Buches nicht richtig zum Tragen, das sowieso sehr offen und abrupt ist und viel zu viele Dinge ungeklärt lässt.

Echte Märchen sind nichts für Zartbesaitete. Kinder werden von Hexen gefressen und von Wölfen gejagt; Frauen fallen ins Koma und werden von bösen Verwandten misshandelt. Aber am Schluss haben sich all die Schmerzen und Qualen irgendwie gelohnt, denn es gibt immer ein Happy End.
- Mein Herz zwischen den Zeilen, S. 39

 Aller Kritik zum Trotz hat Jodi Picoults Jugendbuch jedoch auch ein paar wirklich märchenhafte Elemente, die zu verzaubern vermögen, denn dem Einfallsreichtum von ihr und ihrer Tochter schienen beim Schreiben dieses Buchs wirklich keine Grenzen gesetzt gewesen zu sein. Anstatt sich stereotypischen Elementen von Märchen zu bedienen, haben sie ihre ganz eigene Art von Märchen geschaffen, mit einem Prinzen, der gar nicht mal so mutig ist wie wir es von Helden kennen, einem Pferd, das ziemlich eigen und selbstverliebt ist, einem Piraten, der in Wahrheit Kieferorthopäde ist, Männer hassenden Meerjungfrauen und einem Bösewicht, der in seiner Freizeit, wenn das Buch geschlossen ist, leidenschaftlich Schmetterlinge sammelt und malt. Obwohl die Nacherzählung des Märchens, eingeschoben zwischen der wechselnden Perspektive zwischen Oliver und Delilah, eher als Lückenfüller anmutet, hat mir dieser Teil fast sogar noch besser gefallen als die eigentliche Geschichte, da das Schriftstellerduo hier wirklich etwas völlig anderes bietet und angenehm unterhält.
Das Buch ist außerdem mit wunderschön gestalteten Illustrationen geschmückt, die immer zu dem gerade abgedruckten Text auf der Seite passen und ihn schön unterstreichen, und enthält auch kleinere Botschaften und Lektionen über Liebe, Freundschaft und andere Themen, die sich sehr schön lesen lassen und sich auch im Gedächtnis einprägen.

Mein Herz zwischen den Zeilen konnte mich zwar nicht gänzlich überzeugen, weil es wohl einfach auf eine jüngere Zielgruppe ausgelegt ist und einige Unstimmigkeiten aufwiest, dennoch kann es eine schöne Story für zwischendurch bieten und ist ein märchenhaftes Buch, das zumindest junge Mädchen zum Träumen bringen dürfte.