Rezension

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Nicht nur aktuell, sondern auch richtig gut

nichts, was uns passiert - Bettina Wilpert

nichts, was uns passiert
von Bettina Wilpert

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Geschmacklos und anstößig“ – so charakterisiert ein juristisches Schreiben das Geschehen in der fraglichen Nacht. Anna hat Jonas wegen einer Vergewaltigung angezeigt; Jonas ist sich keiner Schuld bewusst. Sie waren nach einer Party beide sturzbetrunken, ihre Erinnerungen und Wahrnehmungen decken sich nicht. Wilpert erzählt die Geschichte als eine Art Reportage, in der alle Stimmen gehört werden sollen. Dabei macht die Autorin es sich nicht leicht, und nie wird sie belehrend. Sie schildert, wie beide leiden, verzichtet auf Schwarzweißmalerei: weder ist Anna immer nur die Gute, noch ist Jonas ein psychopathischer Sadist.

Was passiert ist, entspricht nicht dem typischen Bild einer Vergewaltigung durch den bösen Mann in einem dunklen Park – und ist doch in der Realität sehr viel typischer: ein Überlaufen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis. Das wiederum findet in einem gesellschaftlichen Kontext statt, indem es immer noch häufig das Opfer ist, das sich schämt, schweigt, schuldig fühlt. Immerhin: 2016 wurde der §177 des SGBs geändert und bestraft nun auch sexuelle Handlungen an Personen, die beispielsweise in ihrer Willensbildung oder -äußerung eingeschränkt sind.

Der Roman spielt 2014/15, und die Autorin lotet die hier fragliche Grenze zwischen Sex und Vergewaltigung scharfsinnig aus, ohne vorschnell zu urteilen. Eines wird dennoch klar: das Grundproblem einer Gesellschaft, in der die Menschen denken, es sei in Ordnung mit jemandem zu schlafen, der zu betrunken (oder was auch immer) ist, um sich noch klar zu äußern; jemanden unter Druck zu setzen oder zu „überreden“; die Signale des anderen nicht ernst zu nehmen. Nein heißt nein – das nicht zu akzeptieren, ist weit mehr als „geschmacklos und anstößig“.