Rezension

Nichts für schwache Nerven

Die Chroniken von Alice - Finsternis im Wunderland - Christina Henry

Die Chroniken von Alice - Finsternis im Wunderland
von Christina Henry

Inhalt:
Aus Anlass des 16. Geburtstags ihrer Freundin Dor beschließen Alice und ihre Freundin gemeinsam in der Alten Stadt zu feiern. Dort prägen Arbeitslosigkeit, städtische Verwahrlosung und Gewalt den Alltag. Urbane Ausschreitungen sind an der Tagesordnung. 
An diesem Tag geschah etwas Schreckliches, soviel ist Alice klar, als sie zwar ohne Erinnerungen, dafür aber mit einem Schnitt quer über ihrem Gesicht, in einem Kleid, das nicht das ihre ist, blutüberströmt zu sich kommt. Dor scheint die Alte Stadt im Gegensatz zu Alice nie verlassen zu haben.
Ein einziger Gedankenfetzen ist Alice geblieben. Nämlich der, einem Mann mit langen Ohren begegnet zu sein. Alice kann nicht anders, als immer wieder die Worte, „das Kaninchen, das Kaninchen“, zu wiederholen. Es dauert nicht lange, bis sie sich in der Alten Stadt wiederfindet. Grund hierfür ist ihre unfreiwillige Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung.
Zehn Jahre vergehen, die Alice dort verbringt. Solange dauert es, bis ihr endlich die Flucht gelingt. Hilfe bekommt sie von ihrem Zellennachbarn, dem Axtmörder Hatcher. Gemeinsam wollen sie das Kaninchen ausfindig machen.
 
Meinung:
Christina Henry steigt düster und brutal in ihre Märchenadaption ein. Alice, die sich an den schrecklichsten Tag ihres Lebens nicht mehr erinnern kann, fristet seit zehn Jahren ihr Dasein in einem Irrenhaus in der Alten Stadt. Die Pfleger gehen hier nicht zimperlich mit den Insassen um. Alice, die mehr und mehr verroht, lebt nunmehr in einer Welt, in der Gewalt zu einem probaten Mittel wird.
Nicht einmal ein Fenster befindet sich in der kahlen Zelle. Als das Mädchen eines Tages eine Stimme hört, fragt sie sich, ob sie endgültig dem Irrsinn verfallen ist. Doch bald stellt sich heraus, dass der Zellennachbar durch ein Mauseloch in der Wand Kontakt sucht.
Nach und nach entwächst aus diesen ersten Gesprächen eine fragile Freundschaft. Alice ist es egal, dass ihr Nachbar ein gefürchteter Axtmörder ist. Sie weiß, dass Hatcher ab und an durchdreht. Auch kennt sie seine Ängste vor dem Jabberwock, der ihm, so berichtet er, des öfteren auflauert.
Als eines Abends ein Feuer ausbricht, gelingt Alice und Hatcher die Flucht. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach dem Kaninchen. Dicht gefolgt vom Jabberwock.
Während des Lesens habe ich mich viele Seiten lang gefragt, wer denn diese Verkörperungen des Bösen wie das Kaninchen, der Jabberwock, das Walross oder der Zimmermann überhaupt sind.
Viele kleine erzählerische Mosaiksteine ergeben hier langsam ein Bild. Dabei scheut sich Christina Henry nicht, Abgründe auszuleuchten. Der Leser begegnet Ungeheuer, die in einem Pfefferminzstangenhäuschen leben oder Rosenhecken, deren Ranken in die Körperöffnungen eines Menschen hineinwachsen und ihn von innen zu ersticken und zu zerreißen drohen.
Dass es sich bei "Die Chroniken von Alice" um eine Märchenadaption handelt, verrät nicht nur der Titel. Auch bei Figuren wie Grinser oder Raupe stellten sich unmittelbar Assoziationen ein.
Jedoch sollte man auch hier gewarnt sein. In der Geschichte von Christina Henry ist wirklich nichts lieb und nett. Alles ist finster, bitterböse und grausam. So betreibt Raupe zum Beispiel ein Bordell, in dem seine Mädchen sich so ziemlich alles von den Freiern gefallen lassen müssen. Einem seiner Lieblingsobjekte wurde, alleine zum reinen Vergnügen des Freiers, mehrfach die Beine gebrochen und Flügel am Rücken angenäht.
Neben den Figuren gibt es aber auch andere Elemente, die an das bekannte Märchen erinnern. So gibt es beispielsweise Fläschchen mit einer Flüssigkeit, die einen wachsen lässt. Kuchen, von dem man nur einen Bissen nehmen muss, damit der eigene Körper von einer Sekunde auf die andere schrumpft.
Sehr gefallen hat mir, neben den vielen fantastischen Elementen, dem düsteren und gruseligem Setting und den interessanten Figuren aber auch die Beziehung der beiden Protagonisten.
Alice und Hatcher sind ein Paar, wie man es wohl selten trifft. Von ihrer Art her sind sie unterschiedlich und dennoch ergänzen sie sich perfekt. Hatcher ist bereit alles zu geben, um Alice Schutz zu geben. Und Alice würde alles tun, um Hatcher zu helfen, wenn er mal wieder in seine düstere innere Welt abtaucht.

Fazit:
"Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland" ist ein Buch, das nichts für schwache Nerven ist, das von Spannung, Nervenkitzel und Abgründen geprägt ist. Präzise zeichnet Christina Henry die „Alte Stadt“ als eine Hölle auf Erden: Ein urbaner Mix aus Verbrechern und Verrückten.
Bis zum finalen „Showdown“ ist es letztlich unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen oder nicht auf dessen Ende zu schielen. Starke Nerven sind vonnöten für das Durchstehen der Seiten und Kapitel. Aber: Es lohnt sich.
 
Buchzitate:
„Ich hatte nie die Chance zu werden, wer ich wirklich bin. Ich hab mich schon vorher verlaufen.“
(Alice zu Hatcher)
„Die meisten Männer geben ihrem Mädchen einen Ring, weißt du, statt ihr damit zu drohen, sie zu töten.“ Hatcher legte seine Hände um ihr Gesicht, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. „Ein Ring würde dich nicht vor den Männern retten, die dich benutzen und zerstören wollen ...“