Rezension

Niemals vergessen

Rote Kreuze
von Sasha Filipenko

Bewertet mit 5 Sternen

Ein grauenhaftes Buch, das mich begeistern konnte. Bittere historische Wahrheit, gekonnt aufbereitet, in eine berührende Geschichte verpackt, ohne je rührselig zu sein.

Eine vom Leben gebeutelte alte Dame hilft dem jungen Vater Alexander nach einem Schicksalsschlag zurück ins Leben zu finden, indem sie ihm von ihrem eigenen schweren, teils grauenhaften Lebensweg berichtet. Mit der Erkenntnis nicht allein von Schrecken gepeinigt zu sein, erscheint die eigene Situation für Alexander in einem neuen Licht. Er bricht die Ketten seiner Gewissensgefangenschaft, erkennt neue Möglichkeiten für sich. Sehr treffend zusammengefasst wird die Erkenntnis bereits auf Seite 9: „Das Glück hat immer eine Vergangenheit, ..., und jeder Kummer hat eine Zukunft.“

Von den beiden Charakteren mochte ich Tatjana, die alte Dame, am meisten. Ihre durchgehend aufdringliche Art, die ich typisch für ihre Altersgruppe empfinde, mit einem Augenzwinkern auch irgendwie sympathisch, verschwindet in meiner Wahrnehmung nach und nach in den Hintergrund. Sie versteht es, nicht nur den Leser sondern ebenso Alexander mit ihrer Geschichte für sich zu gewinnen. Die anfängliche Ablehnung seinerseits schwindet, wird von einem tiefen Respekt ersetzt. Für mich war Tatjana‘s unerschütterliche Wille zu leben, aller Pein zum Trotz, das Bewundernswerteste.

Alexander hatte ich fast genauso gern, ich fand seinen Charakter nur nicht ganz so stark. Seine Entwicklung hat mir gefallen, insbesondere hinsichtlich des Respekts vor dem Alter. Die anfängliche Ablehnung, sich überhaupt auf ein Gespräch mit Tatjana einzulassen, wich einem aktiven Zuhören, das durch gezielte Nachfragen und von Alexander initiierten, weiteren Treffen gekennzeichnet war. Interessant fand ich darüber hinaus den Wechsel seiner Perspektive zum eigenen Schicksal.

Über die Geschichte zwischen Tatjana und Alexander, die sich zunächst etwas holprig anbahnt, transportiert Sasha Filipenko die Geschehnisse des russischen 20. Jahrhunderts. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem stalinistischen Regime mit seinen abscheulichen Verbrechen, die auf einer mangelnden Wertschätzung des einzelnen menschlichen Lebens beruhen. Die Erzählung reicht jedoch bis ins heute hinein, wo sich nicht nur die Alzheimer-kranke Tatjana, sondern auch die Gesellschaft dem Vergessen ergibt. In diesem Sinne richtet sich Roman gezielt gegen das Vergessen.

Sasha Filipenko bindet in seinem Roman gekonnt von Metaphern geflutete Gedichte und historische Originaldokumente als Zeitzeugen mit ein, was den Leser einerseits in seinem Fluss etwas ausbremst, was ihn durch das Innehalten andererseits zum Nachsinnen über das Gelesene anregt. Diese Technik kam mir persönlich sehr entgegen, um das Grauen des Stalin-Terrors besser verarbeiten zu können. Zudem haben diese Zusatzinformationen maximale Glaubwürdigkeit transportiert. Fast schon sensationell ist zurückblickend betrachtet, die Wahl des mehr als treffenden Romantitels.

Insgesamt bin ich begeistert von „Rote Kreuze“ und kann nicht anders, als die Lektüre wärmstens zu empfehlen.