Rezension

Noch besser als erwartet

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
von Lilly Lindner

Bewertet mit 5 Sternen

Phoebes große Schwester April darf plötzlich nicht mehr bei ihr zu Hause wohnen, denn sie hat Magersucht und kommt in eine Klinik, wo ihr geholfen werden soll. Phoebe, die das alles noch nicht so recht versteht, darf April dort aber nicht besuchen und beginnt deshalb, ihr Briefe zu schreiben. Briefe mit dem, was sie so erlebt, wie schlecht es den Eltern geht, seit April fort ist und mit vielen Fragen. Denn Phoebe kann die Krankheit ihrer Schwester noch nicht einordnen, versteht nicht, warum sie keinen Hunger hat. Und so schreibt sie, Brief für Brief, in der Hoffnung, April bald wieder bei sich zu haben...

Ich wollte, nachdem ich die Leseprobe gelesen hatte, das Buch unbedingt haben und war dann anfangs etwas enttäuscht, als ich nicht so leicht wie erwartet in die Geschichte hineinkam. Denn es handelt sich um einen Briefroman, der zuerst aus den Briefen von Phoebe an April und dann im zweiten Teil von denen von April an Phoebe handelt. Phoebe erzählt aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens, und so fand ich den Einstieg etwas schwer, weil sie vieles mit ihren kindlichen naiven Augen betrachtet und oft ähnliches schreibt, wie man es eben in dem Alter tun würde und was einem mit neun als besonders wichtig erscheint. Doch von Brief zu Brief entwickelt sie sich weiter, wird auf gewisse Weise erwachsen. Ihre eigentliche Wortgewalt, die sie besitzt, kommt immer mehr zum Vorschein und schon bald ist aus dem anfänglich monotonen Briefschreiben ein herzergreifender Roman geworden, den man nicht mehr missen möchte.

Dabei lernt man immer mehr von den beiden Schwestern kennen und bekommt langsam ein Gefühl, warum die beiden anders sind und sich auch gerade deswegen so nahe stehen. Und warum April einfach nicht essen kann. Der Schreibstil ist durch seine Briefform dabei sehr persönlich und einfühlsam und schnell hat man sich in den wunderbaren Worten verloren, die die beiden Mädchen miteinander austauschen. Die anfängliche Enttäuschung, die ich beim Lesen empfunden hatte, war also sehr schnell verflogen und stattdessen machte sich Begeisterung breit.  Ich wurde gepackt von der Wortwelle, die mich mitgenommen hat auf die Reise der beiden Schwestern und war so gerührt, dass nicht nur einmal die Tränen geflossen sind. Das Thema Magersucht wurde dabei auf eine Weise behandelt, wie ich es noch in keinem anderen Buch gelesen habe, denn nicht die Krankheit, sondern vor allem die Gefühle und die Nähe und der Zusammenhalt der beiden Schwestern standen im Vordergrund.  Für mich hat Lilly Linder einen so tollen Roman geschrieben, der noch lange nach dem Lesen im Kopf umher spukt, nachdenklich macht und dafür sorgt, dass man die Welt mit anderen Augen sieht und mehr zuhört.

Melancholisch, traurig, herzergreifend. Wunderschön.