Rezension

..., oder die Erfindung des Radlers!

Der Mann auf dem Hochrad - Uwe Timm

Der Mann auf dem Hochrad
von Uwe Timm

Bewertet mit 4 Sternen

Radler, damit ist nicht der Radfahrer gemeint, sondern ein Biermischgetränk aus Bier und Limonade. Timm ordnet die Erfindung der Currywurst den Hamburgern und eben die des Radlers den mutigen Herren aus Coburg, die auf dem Hochrad beim Wirt eingetroffen, nur eine Mischung aus Bier und Limonade verlangen, damit sie auf dem Rückweg, nicht wegen zu hohem Alkoholanteil in ihrem Blut die Balance auf ihrem Gefährt verlieren, zu. Der Wirt wußte also, wenn die Radler kamen, bekamen sie Radler.

Aber zurück zum Hochrad. Ende des 19. Jahrhunderts fährt der Dermoplastiker (Tierpräparator) Franz Schröder erstmals auf einem Hochrad durch Coburg und bringt damit Aufruhr in die Dorfgemeinschaft. Die einen bewundern diesen Fortschritt der Technik, die anderen halten es für widernatürlich und fühlen sich durch die häufigen Stürze des Fahranfängers darin bestätigt. Doch schon wollen ein paar Unverdrossene ebenfalls das Radfahren erlernen. Franz wittert sein Geschäft als Radhändler und Fahrlehrer.
Bald schon soll er heimlich einer jungen Frau in Männerhosen das Radfahren beibringen, verliebt sich fast in sie, wird dann aber von seiner Frau Anna überrascht, die sich heimlich in "syrischen Damenunterkleidern" (Pumphosen) selbst diese Kunst beigebracht hat. Der Skandal ist perfekt, als sie ihr Können auf dem Marktplatz zum Besten gibt.
Radvereine bilden sich, Moralapostel sprechen vom Sittenverfall, die Stadt spaltet sich, als dann auch noch das sicherere Niederrad dem Hochrad Konkurrenz macht, werden gar die ersten Wettrennen veranstaltet und die Vereine spalten sich in zwei Lager.
Die Trennlinien sind überall deutlich spürbar, Franz hält an seinem Hochrad fest und geht an seinem Stursinn fast pleite.

Aber eigentlich gehts nicht um das Hochrad, sondern um Anschaungen, Moral, Sitten, ja, sogar um die Bildung von Arbeitervereinen, die Vorboten der Gewerkschaften und natürlich auch um Emanzipation. Anna, als treusorgende Ehefrau ohne Mitspracherecht, setzt trotz aller Widerstände ihre Träume um und schert sich nicht um die Meinungen anderer. Bald schon wird sie wieder von den anderen Frauen gegrüßt.

Und eigentlich gehts auch nicht darum, sondern um ein weiteres Stück Familiengeschichte von Uwe Timm, der sich mit Hilfe eines beerbten Zahnstochers aus Silber und Schildpatt, an seinen Großonkel Franz erinnert und damit die Grundlage für seine Erlebnisse während der Evakuierung aus Hamburg im zweiten Weltkrieg zu seinen Verwandten nach Coburg bildet. Aber das ist eine anderen Geschichte und sollte nur am Beispiel seines Bruders erzählt werden.

Und was sagt uns das? Wo Timm ist, wird erfunden, entdeckt, gestritten, wieder versöhnt und überhaupt die kleine Weltgeschichte geschrieben. Ich war gerne mit dabei!

Kommentare

wandagreen kommentierte am 07. März 2018 um 16:59

Hahahaha, ja, über Neuerungen wurde immer und überall die Nase gerümpft und der Verfall der Sitten beklagt, übrigens: manchmal stimmte es auch. Ich weiß allerdings nicht bei was ... DSDS vllt? aber: Zweiter Weltkrieg, Emsschatz! Es ist (hoffentlich) kein Zahlwort.

Timm ist wohl viel viel vergnüglicher als ich annahm!!!

Emswashed kommentierte am 08. März 2018 um 08:25

Nee, natürlich groß geschrieben oder einfach nur 2.! Shit happens!