Rezension

Olivias Männer

Der große Bruder
von Esther Gerritsen

Bewertet mit 4 Sternen

Olivia ist mit Gerard verheiratet und hat mit ihm die zwei halbwüchsigen Söhne Tom und Julius. Sie arbeitet als Finanzleiterin in einem alten Traditionsbetrieb für Porzellan. Das Unternehmen stand schon am Abgrund, doch mit ihrer Hilfe gelang es, das Geschäft langsam wieder in die Gewinnzone zu bringen. Während sie sich auf eine Gesellschafterversammlung vorbereitet, erhält sie einen Anruf von ihrem älteren Bruder Marcus, von dem sie seit Ewigkeiten nichts gehört hat. Marcus ist auf dem Weg in den OP, wo man ihm sein Bein amputieren wird, da er mit seinem Diabetes so sorglos umgegangen ist. Olivia ist von Natur aus eher eine wenig sentimentale Person, doch die Nachricht wirft sie regelrecht aus der Bahn und sie ist so geschockt, dass sie sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren kann und kurzerhand in die Klinik fährt, wo Marcus gerade aus der Narkose erwacht. Die kurze Zeit mit ihrem Bruder bringt sie dazu, ihn einzuladen, für die Zeit während der Reha bei ihr und ihrer Familie zu wohnen, was Marcus dankend annimmt und Olivia schon in dem Moment wieder bereut, als Marcus einzieht. Während Marcus‘ Aufenthalt verändert sich sowohl Olivia als auch ihre ganze Familie. Hat Besuch von Marcus der Familie gut getan?

Ester Gerritsen hat mit ihrem Buch „Der große Bruder“ einen sehr interessanten und gefühlvollen Roman vorgelegt, der zwar mit 130 Seiten als kurz bezeichnet werden kann, dafür aber mit vielen menschlichen Eindrücken punkten kann. Der Schreibstil ist flüssig, es wird aus der Sicht von Olivia erzählt in der dritten Person. Ab der ersten Seite ist der Leser hautnah dabei, um zum einen Olivias Aufgaben im Porzellangeschäft kennenzulernen, aber auch die einzelnen Familienmitglieder und ihr Verhältnis untereinander zu verfolgen. Durch einige kleine Erinnerungen in die Vergangenheit gibt Olivia zudem einen Einblick, in welchen Verhältnissen sie aufgewachsen ist und wie die Beziehung zu ihrem Bruder war. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden von der Autorin sehr gut in Szene gesetzt und lassen beim Leser viel Raum für Spekulationen über die weitere Entwicklung innerhalb der Familie.

Die Charaktere sind anhand ihrer Eigenschaften sehr unterschiedlich ausgestaltet. Sie wirken sehr real und authentisch. Olivia ist eine sehr unterkühlte Frau, die keinerlei Sentimentalität aufkommen lässt. Sie wirkt sehr nüchtern und fokussiert, oftmals lässt sie auch gegenüber ihrer Familie an Emotionalität und Einfühlungsvermögen vermissen. Das Schicksal ihres Bruders öffnet dann aber langsam innerliche Barrikaden, Olivia erinnert sich an die Vergangenheit, an die Armut und an die fürsorgliche Betreuung durch ihren Bruder Marcus. Sie macht innerhalb der Handlung die größte Entwicklung durch. Ehemann Gerard ist in seinem Job unzufrieden und lässt in wenigen Zeilen erkennen, dass zwischen ihm und Olivia auch nicht mehr alles so gut und richtig ist, wie es einmal war. Lange kam er mit ihrer Art zurecht, doch nun fühlt er sich vernachlässigt und unverstanden. Tom und Julius sind im Teenageralter und haben ein besseres Verhältnis zu Gerard als zu Olivia. Beide haben wohl den Eindruck, dass Olivia sich nicht wirklich für sie interessiert. Marcus ist durch die Amputation nah am Wasser gebaut, doch bringt er auch viel Licht in Olivias Familie. Gerard, Tom und Julius freunden sich schnell mit ihm an und verbringen gern Zeit mit ihm. Gleichzeitig sind sie ihm gegenüber offen und zeigen ihre Gefühle, die sie Olivia nie offenbart haben.

„Der große Bruder“ ist eine geschickt inszenierte Familiengeschichte, die die Veränderungen innerhalb dieses Gerüstes aufzeigt, sobald eine schwierige Situation eintritt. Dabei werden auf einmal Dinge offengelegt, die niemand laut auszusprechen wagte und die doch nötigerweise an die Oberfläche kommen musste, um ein neues Miteinander zu schaffen. Eine Leseempfehlung für eine echte Entdeckung!