Rezension

Orientalisch ausufernd. Genial und verrückt.

Siebentürmeviertel - Feridun Zaimoglu

Siebentürmeviertel
von Feridun Zaimoglu

Bewertet mit 4.5 Sternen

Um Feridun Zaimoglu mit Gewinn zu lesen, braucht man Zeit. Und die Bereitschaft, Unverständliches einfach im Raum stehen zu lassen. Kunst versteht man nicht vollkommen. Was man davon versteht, ist faszinierend. Was dem Buch fehlt, ist ein Nachwort, in dem der Autor einen wissen lassen könnte, ob seine Landsleute wirklich so verrückt sind. Beim Lesen habe ich mich oft gefragt: Will der Autor den Ruf der Türken ein für allemal verderben? Meine Sympathie für dieses Volk (eh schon nicht hoch aufgrund aktueller Politik), sank und sank und sank. Aber Leute: es ist NUR Kunst. Nichts davon darf man Eins zu eins nehmen!

Man schreibt das Jahr 1939. Der Sozialdemokrat Franz, der Vater des sechsjährigen Jungen Wolf, macht eine kritische Bemerkung über Hitler und ist auf der Flucht. In Istanbul wird er vom Familienoberhaupt Abdullay Bey und seiner Familie gastfreundlich aufgenommen. Weil sich die erwachsene Tochter des Hauses in Franz verguckt, verlässt Franz die Gastfamilie, um sie nicht in Verruf zu bringen, da er sie nicht heiraten will und geht nach Ankara. Der Sohn bleibt bei Abdullah Bey, den er bald Vater nennt.

Der Zeitrahmen, immer gemessen an der deutschen, nicht der türkischen Politik, spannt sich bis zum Ende der Hitlerdiktatur bis hin zum Nachkriegsdeutschland. Während sich Franz in all den Jahren immer noch schwer tut mit der türkischen Mentalität, sie innerlich ablehnt und sich über sie erhebt (Türken sind Barbaren, sagt er), assimiliert sich der Junge schnell. Innerlich ist er längst ein echter Türke, doch seine Umgebung lässt ihn seine Herkunft nicht vergessen, Arier nennen sie ihn, den Jungen, der drei Väter hat, Hitler, Franz und Abdullah Bey. Trotzdem, er berappelt sich, besteht alle Mutproben, gehört dazu.

Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im türkischen Bolu, der mit sechs Jahren nach Deutschland kam, dreht die Einwanderunggeschichte einfach um. Dabei lässt er Wolf eintauchen in ein vorkemalistisches Sozialgefüge von seltsamen Ehrenkodexen und Gebräuchen. Man redet in Geschichten. Niemals direkt. Wenn man jemanden rügen möchte, erzählt man dem Jungen Wolf eine Geschichte, will aber die anwesende Cousine oder Nachbarin mit der Erzählung treffen.

Es ist eine streng regulierte Männerwelt, die Bildung verachtet, auf Körperkräfte setzt und auf Selbstjustiz und Gewalt. Frauen existieren quasi nur als Körperöffnungen. Die Interaktion der Geschlechter wird daher mehr als argwöhnisch beobachtet. Mut und Ehre. Aberglauben und seltsame Rituale. Heimlichkeiten und Anisschnaps. Abschottung. Wer das komplizierte Beziehungsgeflecht unter den Menschen nicht durchschaut, macht leicht einen Fehler und muss mit Blut bezahlen.

Dabei muss man nur über die Galatabrücke gehen und fände sich in einem relativ modernen Istanbul wieder!

Zaimoglus Sprache ist aus Hauptsätzen geflochten, aus ausufernden Aufzählungen, einzelne Sätze erstrecken sich über eine ganze Seite oder mehr. Sie ist lyrisch, schön, ein seltsamer, harter melodischer Rhythmus, gerne würde man sich das Buch vorlesen lassen, es hat unbestritten Orient im Blut. Doch mit der Zeit wird man müde ob einer gewissen Monotonie.

Man muss sich einlesen in eine fremde Kultur, man braucht Geduld. Und bekommt eine Geschichte von Blut und Tränen, Ausgeliefertsein und Demütigungen, Angst und Hass, eine Gesellschaft mit strenger Hierarchie. Und Abdullah Bey ist nicht nur ein liebevolles und strenges Familienoberhaupt, er hat eine gewichtige und gefürchtete Position im Viertel inne. Und Wolf gilt als sein Sohn. Gefahren überall. Selbst unter einstigen Freunden.

Als Franz nach vielen Jahren nach Deutschland zurückkehrt, muss Wolf eine letzte Entscheidung treffen: Welche Kultur ist die seine? Welchem Vater und welchem Land fühlt er sich mehr verbunden. Wo möchte er leben? Glücklich der, der eine Wahl hat. Viele haben keine!

Der Orient mit seinen Geschichten ist ausschweifend seiner Natur nach, das ist dieser Roman auch, 200 Seiten weniger und die meisten Leser würden ihn mehr mögen. Doch die gewählte Kunstform, die das islamische Umfeld spiegelt, 99 Kapitel, die mit den 99 Namen Allahs überschrieben sind, zwingt die Länge auf.

Fazit: Orient pur. Rückständigkeit. Köchelnde Lust, Mord und Totschlag, Aberglaube und Sälbchen aus seltsamen Ingredenzien, Moralkodex, Ehre und Mut.

Vorschlag: Esst Nüsse und Rosinen beim Lesen und trinkt ungesüssten Tee!

Kategorie: Longlist Deutscher Buchpreis, 2015
Verlag: KiWi, 2015

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 09. März 2018 um 12:00

Eine Rezi, die das Buch interessant macht, verflochten mit einem "Vorsicht, auch anstrengend". Eine gute Rezi, aber ich halte mich wohl an das "Vorsicht". Obwohl ich meinen Tee ohnehin ungesüßt trinke...

LySch kommentierte am 09. März 2018 um 12:53

Und ich dachte, man trinkt viel gesüßten, schwarzen Tee im Orient? ^^

wandagreen kommentierte am 09. März 2018 um 17:33

Es ist wohl von Region zu Region verschieden; ausserdem war man gerade sehr arm in dieser Zeit. Um auf deine Frage auf Lb zurückzukommen, Abdullah war ein Arbeitskollege von Franz.

Emswashed kommentierte am 09. März 2018 um 18:55

Ich bin Orhan-Pamuk-gestählt, mich haut kein Orientalismus um. Der Kunstgriff mit der umgedrehten Einwanderunsgeschichte reizt mich schon ein wenig. Letztendlich, liebe Wanda, sind auch die Türken nicht in ihrer Zeit stehen geblieben, aber vielleicht wird mit der Geschichte alles verständlicher.

wandagreen kommentierte am 09. März 2018 um 19:31

Hast du "Istanbul" gelesen von Parmuk??  Ist ein Spaziergang dagegen. // Es ist ja nur ein Ausschnitt. Wie gesagt, jenseits der Brücke gibt es Lichtblicke. Schon damals ;-))). Trotzdem lesenswert. Es sind zwei Teile. 1939 // dann gibt es einen Umbruch 1949. Mir hat der erste Teil viel besser gefallen. Lies mal, dann vergleichen wir. Allerdings wird das Buch dann ncht mehr hier sein, wie es im Türkenland so üblich ist, ist die Braut versprochen ;-).

Emswashed kommentierte am 10. März 2018 um 08:37

So, ich habs mir das Buch notiert und warte auf "Gelegenheit", kann also etwas dauern, bis ich es lese.

wandagreen kommentierte am 10. März 2018 um 09:32

Es hat ja auch nur drei Jahre auf dem SuB geschlummert ... also lass dir Zeit.