Rezension

perfektionistisch- wortgewandtes Meisterwerk

Der Distelfink
von Donna Tartt

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Und es hatte etwas Festliches, Glückliches, wie wir beide unter dem kümmerlichen, bunt gestreiften Schirm die Stufen hinaufsprangen, schnell schnell schnell, vor aller Augen, als flüchteten wir vor etwas Schrecklichem, statt ihm geradewegs in die Arme zu laufen." (S. 29)

Theo Decker ist dreizehn Jahre alt, als seine Mutter während eines Besuchs in einem New Yorker Museum bei einem Attentat ums Leben kommt. Wie in Trance und erfüllt von tiefer Trauer steckt er als Andenken das ihr liebste Gemälde ein und verlässt unbemerkt das Gebäude. Fortan wird er herumgereicht: Zu seinem Grundschulfreund, dessen Familie ihn zunächst distanziert, aber freundlich aufnimmt, hin zu Hobie, der sich liebevoll, aber leider nur kurz  um seinen kleinen Freund kümmern darf und weiter nach Las Vegas, wo sich unterdessen Theos abtrünniger Vater ein neues Leben mit einer anderen Frau aufgebaut hat. Vernachlässigt und auf sich allein gestellt lernt er schließlich Boris kennen und rutscht endgültig in einen Teufelskreis aus Drogen und Kriminalität ab, immer getrieben von dem einen Wunsch, seinen „Distelfink“ zu beschützen.

Sprachlich gesehen ist Donna Tartts dritter Roman ein wahres Meisterwerk. Das Buch strotzt geradezu vor Wortgewandtheit, präzisen Formulierungen und dem Wunsch, für jedes Gefühl, jede zu machende Beobachtung und zu beschreibende Situation die richtige Phrase gefunden zu haben. Trotz eines beachtlichen- und zunächst vielleicht abschreckenden- Umfangs von über 1000 Seiten findet man leicht Zugang zu der Geschichte, die kaum langatmig wirkt, obwohl viele Szenen detailliert ausgeleuchtet werden.

Geschrieben aus der Perspektive eines personalen Ich-Erzählers sieht der Leser das Geschehen mit Theos Augen und erkundet mit ihm gemeinsam das Leben eines plötzlich heimatlos gewordenen Halbwaisen, der aus seinem gewohnten, behütenden Umfeld gerissen wird und auf der Suche ist nach ein klein wenig Stabilität und Sicherheit.

Der Handlungsstrang wirkt trotz der schwer lastenden zentralen Themen „Dogenkonsum“ und „Kriminalität“ nicht völlig unrealistisch und baut sich in einem angemessenen Tempo auf, so dass dem Leser genug Zeit dafür bleibt, die Entwicklungen in Theos Leben nachzuvollziehen  und auch die Charaktere erscheinen authentisch. Besonders liebenswürdig und klarer Sympathiesieger ist hierbei für mich Theos Mentor Hobie, der sich des Jungen annimmt, ihm eine Beschäftigung gibt und zu einer Art Ersatzfamilie wird.   

Dennoch: Ich habe mich mit dieser Rezension schwer getan und das hat einen Grund. Irgendetwas fehlt mir, bloß kann ich nicht genau ausmachen, was es ist. Vielleicht ist dem Roman in all seiner Perfektion, dem sorgfältig verschachtelten Handlungsaufbau und den zu entdeckenden Details das gewisse Etwas, der letzte Funke Charme abhanden gekommen. Je länger das Buch gelesen in meinem Regal stand, desto unzufriedener wurde ich mit ihm, mit meinem ersten Eindruck, meiner anfänglichen Euphorie. Vielleicht aber habe ich mir auch nur still und heimlich ein glücklicheres Leben für den kleinen Jungen aus dem Museum gewünscht, den nichts weiter sorgte als die bevorstehende Schulkonferenz.

Trotz meiner Bedenken ist „Der Distelfink“ unbedingt empfehlenswert und ein wahres Lesevergnügen.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 22. Juni 2014 um 18:57

Naja... der erste Eindruck/ die erste Euphorie waren doch sicher auch echt, oder? hihi...;) Und immerhin hast Du ja kaum Punkte abgezogen... Ich selbst habe vor vielen Jahren mal ein Buch der Autorin gelesen und fand es sehr nett. Was ich über den "Distelfink" bisher gelesen habe, hört sich nach einer echten Steigerung an und macht mich sehr neugierig ;) Danke für die Rezi!

Goldstueck kommentierte am 25. Oktober 2014 um 18:04

Oh, ich wollte keinesfalls den Eindruck erwecken, dass mir das Buch nicht außerordentlich gut gefallen hätte. Tatsächlich war es trotz der hohen Seitenzahl überraschend kurzweilig. Was ich lediglich zum Ausdruck bringen wollte, war ein für mich noch immer nicht erklärbares Gefühl, dass etwas fehlt, eine winzige Kleinigkeit, um diesen wunderbaren Roman zu einem dieser handverlesenen Bücher zu machen, an die man auch Jahre später noch regelmäßig denken muss. :)