Rezension

Poetisch, bildhaft, humorvoll, wenig Handlung, kluge Gedanken

Offene See
von Benjamin Myers

Bewertet mit 5 Sternen

Ein junger Mann findet seinen Weg durch die ungewöhnliche Freundschaft zu einer älteren Frau - poetisches Buch voller kluger Gedanken

Dies ist ein Buch ganz nach meinem Geschmack oder vielleicht eines, das man gerade jetzt gut zur Ablenkung lesen kann, weil es so beschaulich und genießerisch daherkommt – trotz einiger ernster Gedanken. Aber ich muss eine Warnung aussprechen: Dieses Buch könnte so manchen langweilen, denn es gibt wenig Handlung.

Ein alter Mann erinnert sich (Rahmenhandlung) an die Zeit, als er 16 war, fast ein Mann, und sich im Nachkriegsengland von seinem kleinen Bergarbeiterdorf auf den Weg machte, um einmal in seinem Leben das Meer zu sehen, bevor er für immer in der Dunkelheit verschwinden würde, er, der die Weite, die Natur, das Licht so liebt.

Der Zufall führt in zu einem Cottage mit Meerblick, wo er auf eine ungewöhnliche ältere Frau trifft: Dulcie Piper, die Zigarren raucht, gerne gut isst und trinkt und sich über Hitler und seine 'private parts' lustig macht:

"Sein Dödel war übrigens vollkommen normal, ganz im Gegensatz zu der Person, an der er unglücklicherweise befestigt war." (86)

Robert bleibt lange bei Dulcie, die ihn dazu anstachelt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er entdeckt ganz neue Talente an sich, neue Interessen, die ihn auf einen Lebensweg führen, der besser zu ihm passt. Und auch Dulcie tut seine Anwesenheit gut. Roberts Einfühlungsvermögen hilft ihr, ein schlimmes Geschehen aus der Vergangenheit zu verarbeiten.

Es geht auch um den Krieg und seine Auswirkungen, um Nationalismus und vieles mehr:

lange, dunkle Schatten, die die heimkehrenden Soldaten wie leere Särge hinter sich herzogen (15) - Damals fühlte sich die Welt an, als wäre sie voller Löcher. (15)

Der Nationalismus ist eine Infektion,... ein Parasit, und nach Jahren wirtschaftlicher Not waren viele Leute willige Wirtskörper. (162)

Vor allem aber geht es um die Poesie, die den Jungen aus dem Bergarbeiterdorf packt wie nichts zuvor:

Ein gutes Gedicht bricht die Austernschale des Verstandes auf, um die Perle darin freizulegen. (111) - ...als wären die Wörter über die Seiten gekrochen und vom Papier gefallen und hätten mich umschlungen wie Ranken (148)

Diese Zitate zeigen nicht nur, welche klugen Gedanken zur Sprache kommen, sondern auch, wie bildhaft und poetisch Benjamin Myers Sprache ist.

Deshalb hat mir das Buch ausnehmend gut gefallen und mich ein bisschen von der jetzigen (Corona-)Situation abgelenkt: mit seinen wundervollen Naturbeschreibungen und den vielen Gedanken zum Weiterspinnen, aber auch mit Dulcies bitterbösem Humor.