Rezension

Poetisch, philosophisch, originell und etwas verklärt (leider)

Die Mitternachtsbibliothek -

Die Mitternachtsbibliothek
von Matt Haig

„Zwischen Leben und Tod liegt eine Bibliothek“, sagte sie. „Und diese Bibliothek besteht aus endlosen Regalen. Jedes Buch bietet dir die Chance, ein anderes Leben auszuprobieren, das du hättest leben können. Die Chance, zu sehen, wie alles gekommen wäre, wenn du andere Entscheidungen getroffen hättest … Hättest du irgendetwas anders gemacht, wenn sich ungeschehen machen ließe, was du heute bereust? Du hast so viele Leben, wie du Möglichkeiten hast. Es gibt Leben, in denen du andere Entscheidungen triffst. Und diese Entscheidungen führen zu anderen Resultaten. Hättest du nur eine Entscheidung anders getroffen, dann hättest du eine andere Lebensgeschichte gehabt. Und all diese Möglichkeiten existieren in der Mitternachtsbibliothek. Sie sind alle so real wie dieses Leben. Aber es entspricht nicht ganz der Realität, wie du sie kennst. In Ermangelung eines besseren Wortes, es ist dazwischen. Es ist nicht das Leben. Es ist nicht der Tod. Es ist nicht die reale Welt im herkömmlichen Sinn. Es ist aber auch kein Traum. Es ist weder das eine noch das andere. Es ist, kurz gesagt, die Mitternachtsbibliothek.“ (Seite 41, 43, 44)

Bewertung:
Das Cover und die Aufmachung sind toll und passen wunderbar zur Geschichte. Was will ich mehr … Die Kapitel haben statt Zahlen Überschriften. Die meisten Kapitel sind sehr kurz, nur wenige seiten lang, einige andere sind etwas länger. Das Buch riecht unheimlich gut und fühlt sich an den Seiten so weich an – ach, das liebe ich, auch wenn es vom Lesen immer wieder ablenkt.

Es fängt schon poetisch-philosophisch mit einem Zitat an, das liebe ich ja:

Ich kann nie all die Menschen sein, die ich sein will, und all die Leben führen, die ich führen will. Ich kann mich nie in allen Fähigkeiten üben, in denen ich mich üben will. Doch warum will ich das? Um sämtliche Schattierungen, Töne und Variationen mentaler und physischer Erfahrungen zu erleben, die in meinem Leben möglich sind.

(Sylvia Plath)

Nora hat so viele Chancen und Möglichkeiten, wie sie kaum welche haben: Als Schwimmerin bei der Olympiade teilnehmen, bei einer erfolgreichen Band mit Plattenvertrag, einer eigenen Hochzeit oder andere beruflichen aufstiege durch ihre fantastische Bildung. Und alles verliert sie durch ihre Erkrankung und ihren Fehlentscheidungen. Das macht mich etwas wütend – wenn ich die Chancen hätte wie sie, irgendeine würde ich ergreifen. Auch mit Depressionen.

Und dann fällt wirklich jede Stunde (das ist keine Übertreibung!) einer ihrer jetzigen Halte weg – geht es noch unrealistischer??? So ein Schwachsinn! Ich bin jemand, der wirklich viel Pech hat, aber dass jede Stunde etwas aus meinem Leben fällt, dass mich hält – das ist Blödsinn! Ach, mensch! Der Autor hätte den Anfang echt realistischer gestalten können. Auch wenn nicht alle Halte innerhalb von wenigen Stunden wegfallen, kann man keinen Ausweg mehr sehen und sich umbringen. Sehr schade, dass der Autor so ein konstruiertes Drama genutzt hat, um die Geschichte voranzutreiben.

Und dann nimmt sie auch nur zwei Antidepressiva mit einer Flasche Wein und stirbt fast??? Da folgt dann schon der nächste Realitätsschwachsinn! Von zwei Tabletten mit Alkohol stirbt man nicht - auch nicht fast! Dafür, dass der Autor Depressionen haben soll, erzählt er reichlich Unsinn.
 

Sie erkannte, dass sie den Suizidversuch nicht unternommen hatte, weil sie unglücklich war, sondern weil sie sich selbst eingeredet hatte, es gäbe keinen Ausweg aus ihrem Unglück.

(Seite 240)
 

Es gibt ein paar unlogische Momente, zum Beispiel kennt Nora in einem ihrer Leben Personen nicht, weiß aber etwas später plötzlich, wie diese Personen heißen. Auch eine fehlerhafte Angabe ist dabei; in einer Szene wird gesagt, ihre Mutter sei drei Monate vor der Hochzeit gestorben, in der anderen Szene sind es vier Monate davor. Auch wechselt der Autor die Schreibart; Erst heißt es Volts Nummer 2, dann Volts No. 2. Ich habe gelernt, dass man sich für eine Art entscheiden muss. Das Musikgeschäft heißt „String Theory“, da musste ich schmunzeln. Ein total unpassender Name für ein Musikgeschäft. Die String Theory kommt aus der Physik – Quantenmechanik. Es gibt einige Wörter, die ich nachschlagen muss, da sie mir unbekannt sind.

Dann werden zwischen den verschiedenen Leben, die sie ausprobiert, ihre letzten Updates vom vor ihrem Selbstmord auf dem Instagram-Account gepostet … was soll das? Das kommt aus dem Nichts und bringt überhaupt keinen sinn rein.

Dass sie vor einem Tod durch Fremdeinwirkung steht, gibt ihr den sinn „Ich will nicht sterben“ zurück. Aber es ist ein ziemlicher Unterschied von Nichtsterben wollen und Nicht schmerzhaft sterben wollen. Das wird hier leider als ein und dasselbe gesehen.
 

„Ich glaube nicht, dass dein Problem Lampenfieber war, Auftrittsangst. Oder Hochzeitsangst. Ich glaube, dein Problem war Lebensangst.“

(Seite 26)

Das Ende ist leider märchenhaft „Und alle lebten glücklich und zufrieden ...“. Plötzlich renkt sich alles wieder ein, und das auch wieder im Stundentakt. Der Autor hätte aus dem ende viel machen können … Die Botschaft ist hier aber eher „warte auf ein Wunder“ als die Realität.

Der Autor schreibt poetisch und philosophisch, ohne schwer zu schreiben. Selbst die Überschriften. Die Geschichte liest sich unheimlich fließend, ich habe es in wenigen Stunden komplett durchgelesen. Es fesselt und berührt immer wieder an manchen Stellen.

„Wünschen“, sagt sie bedächtig, „ist ein interessantes Wort. Es bedeutet einen Mangel. Wenn man den Mangel mit etwas anderem stillt, kann es passieren, dass das ursprüngliche Bedürfnis völlig verschwindet. Vielleicht hast du eher ein Problem mit einem Mangel als ein Problem mit dem Wünschen. Vielleicht gibt es ein Leben, das du wirklich gerne leben möchtest.“

(Seite 77)

 

Fazit:
Trotz einiger negativen Kritikpunkte möchte ich das Buch weiterempfehlen. Auch, wenn einige unrealistische Szenen drin sind, vermittelt die Geschichte Zuversicht und Hoffnung. Ich bin nur was enttäuscht, dass der Autor, der ja selber Depressionen haben soll, diese etwas unzulässig und auch verklärt wiedergibt. Sowas ärgert mich immer wieder! Es schürt die fehlerhafte Haltung der Menschen dieser Krankheit und den Leidenden gegenüber.
 

„Der einzige Weg zu lernen ist zu zu leben.“

(Seite 100)

Ich habe dieses Buch total spontan mit Punkten bei vorablesen eingelöst, weil ich so viele Punkte habe und sie nicht loswerde. Normalerweise denke ich mehrfach nach, bevor ich ein Buch oder anderes nehme. Und ich hatte gehofft, dass das hier kein Fehlgriff war, da ich schon mal ein Werk des Autors abbrechen musste. Aber obwohl ich mit einigem nicht einverstanden bin, finde ich das Buch dennoch gelungen. Es ist nicht nur wieder eine originelle Idee des Autors (er scheint immer welche zu haben), sondern auch eine sehr gute Umsetzung dieser.

„Wir wären wie eine Sternschnuppe verglüht. Kaum angefangen, schon wieder vorbei.“
„Sternschnuppen sind was Schöne, verdammt noch mal.“

(Seite 26)
 

Da ich viele Ähnlichkeiten auf anderer Ebene mit Nora habe, hatte ich das Gefühl, dass das genau mein Buch war. Es passte so vieles … Als ob es für Leute wie mich geschrieben wurde. Was ziehe ich also daraus? Nun ja, ich bin ehrlich geschrieben nicht zuversichtlicher oder hoffnungsvoller als vorher, was sehr schade ist. Jeder kennt sicher dieses Gefühl von neuen Erkenntnissen. Mich haben die unrealistischen Erzählungsmomente hier sehr gedämmt – gerade an den Stellen, wo es wichtig ist, realistische Hoffnung wiederzugeben. Aber diese unrealistische und gekünstelte Darstellung deckelt das Ganze und macht die Geschichte nicht größer als sie sein könnte. Sie könnte ein großer Hoffnungsbringer für Menschen wie Nora sein. Aber dafür müsste sie auch wahrheitsgemäß geschrieben sein und das ist sie nicht! Deshalb ist sie für mich auch einfach eine normale Geschichte mit hoffnungsreichen Momenten und einer originellen Idee. Aber leider auch nicht mehr! Wirklich sehr bedauerlich. Trotzdem möchte ich sie mit 4 Sternen bewerten. Weil sie einfach so originell ist und an einigen Stellen wirklich etwas in einem anregt. Und mich hat während des Lesens der Wunsch genagt, auch so eine Möglichkeit zu haben, verschiedene Leben auszuprobieren. Der Autor weckt die Lust auf mehr … wovon, muss jeder Leser selbst entscheiden.
 

Man musste nicht jeden Aspekt jeden Lebens genießen, um die Option zu haben, weitere Leben auszuprobieren. Man durfte nur nie aufhören, sich vorzustellen, dass irgendwo ein Leben wartete, das man genießen konnte. Und ebenso blieb man nicht unbedingt in einem Leben, wenn man es genoss. Man blieb nur dann für immer in einem Leben, wenn man sich kein besseres Leben mehr vorstellen konnte …

(Seite 236)

Ich bedanke mich sehr herzlich beim vorablese-Team und dem Verlag für dieses Buch! Ich habe es sehr gerne gelesen.

 

P.S.: Die Geschichte ist als Hörbuch sicher auch sehr spannend und andersartig.

 

„Ich kenne nur das Heute. Ich weiß sehr viel über das Heute. Aber ich weiß nicht, was morgen passiert.“

(Seite 75)