Rezension

Poetischer Horror

Marina - Carlos Ruiz Zafón

Marina
von Carlos Ruiz Zafón

Bewertet mit 5 Sternen

«In dieser Nacht erzählte mir Michail, er glaube, das Leben gestehe jedem von uns wenige Momente reinen Glücks zu. Manchmal sind es nur Tage oder Wochen. Manchmal Jahre. Alles hängt von unserem Schicksal ab. Die Erinnerung an diese Momente begleiten uns für immer und wird zu einem Land des Gedächtnisses, in das wir im ganzen Leben umsonst zurückzukehren versuchen. Für mich werden diese Augenblicke immer in dieser ersten Nacht begraben sein, als wir durch die Stadt spazierten.»
[«Marina» von Carlos Ruiz Zafon; S. 264 f.]

Erster Satz:
Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei.

Inhalt:
Schon als der junge Óscar Drai die selbstbewusste Marina zum ersten Mal sieht, ist es wie ein kleines Abenteuer. Gemeinsam mit ihr erkundet er die magischen Straßen Barcelonas und dessen verwunschenste Winkel und Orte. So stoßen die beiden auf ein Netz aus Geheimnissen, dass sich um Michail Kowalnik dreht, dem ehemaligen Inhaber einer Firma, die vor einiger Zeit auf Grund von schrecklichen Todesfällen viel Wirbel in der Presse veranstaltete und nun pleite ist. Was als Abenteuer beginnt, entwickelt sich immer schneller zu einer gefährlichen Verfolgungsjagd nach der grausamen Wahrheit, die hinter toten Puppenaugen und schwarzen Schmetterlingen verborgen liegt. Mit Marina löst Óscar immer mehr Rätsel, nicht ahnend, dass auch Marina ein großes Geheimnis vor ihm zu verstecken versucht, dass alles für immer verändert.

Schreibstil:
Ist es an dieser Stelle überhaupt notwendig von Zafóns Schreibstil zu erzählen? Ich meine, man müsste sich lediglich die gleich zitierte Stelle durchlesen, um zu wissen, dass er einfach schreiben kann. Es gibt Autoren, die erzählen eine Geschichte, mit der man zwar Spaß hat, die sprachlich aber eher anspruchslos ist und es gibt Autoren, die schreiben eine Geschichte, die Spaß macht UND sprachlich einwandfrei ist. Carlos Ruiz Zafón gehört für mich eindeutig zu der zweiten Kategorie und ich kann es eigentlich auch nur immer wieder sagen: Der Mann weiß einfach, wie man Worte so benutzt, dass sie schön, irgendwie rein und bedeutungsvoll klingen. Mit viel Gefühl, Poesie und Tiefgang entführt Zafón seine Leser in ein magisch wirkendes Barcelona und schafft es, sich trotz vieler Beschreibungen nicht zu sehr in Details zu verlieren.

«Ende der siebziger Jahre war Barcelona eine Fata Morgana von Boulevards und engen Gässchen, wo man alleine beim Betreten eines Hausflurs oder eines Cafés dreißig oder vierzig Jahre in die Vergangenheit zurückreisen konnte. In dieser magischen Stadt verliefen Zeit und Erinnerung, Geschichte und Fiktion wie Aquarelle im Regen. Dort war es, wo Kathedralen und aus Fabeln entsprungene Häuser im Klang von nicht mehr existierenden Straßen die Kulisse zu dieser Geschichte bildeten.»
[«Marina» von Carlos Ruiz Zafón; S. 13]

Meinung:
Es gibt Bücher, bei denen man auf den richtigen Moment wartet, um sie zu lesen, weil man das Gefühl hat, man könnte etwas verpassen, wenn man sie direkt und zu schnell liest. Die Bücher von Carlos Ruiz Zafón, in diesem Fall «Marina», zählen auf jeden Fall zu der Art dieser Bücher. Man wartet auf den richtigen Moment und dann schlägt man es auf, beginnt zu lesen und fragt sich, warum man auf irgendeinen Moment gewartet hat, weil man mit den ersten Sätzen im Geschehen ist, weil man direkt fasziniert und süchtig ist. So hatte ich «Marina» einige Wochen in meinem Bücherregal, ehe ich es angelesen habe und dann nicht mehr aufhören konnte.

Auch dieses Mal führt uns Zafón in sein geliebtes Barcelona und schafft es abermals diese bestimmte, magische, aber auch gleichzeitig düstere Atmosphäre aufzubauen, die sich kontinuierlich durch jedes seiner Bücher zieht. So wird man auch in «Marina» in eine völlig andere Zeit zurückversetzt, die den Leser sogleich in ihren Bann zu ziehen vermag und obwohl Zafóns Romane hauptsächlich realistsch sind, findet sich auch in «Marina» das ein oder andere phantastische Element, was der Geschichte jedoch nichts abtut und sie nur noch spannender werden lässt.

Durch den Roman wird man von Óscar Drai geführt, der die Geschichte erzählt und dem Leser von der ersten Seite an durchweg sympathisch ist. Seine Abenteuerlust und die dazugehörige leichte Naivität machen ihn glaubwürdig und menschlich, sodass es leicht fällt, sich mit ihm zu identifizieren. Interessant ist jedoch, dass man im Gegensatz zu den anderen Figuren sehr wenig über ihn und seine Vergangenheit erfährt. Es stehen also eher andere Charakter im Vordergrund, deren Geschichte Óscar erzählt. Im Gegensatz zu ihm lernt man Marina sehr gut als Menschen kennen, der nur das tut, was er will, sagt, was er denkt und eine besondere, geheimnisvolle Ausstrahlung an den Tag legt. Für den Leser entwickelt sich diese Ausstrahlung alsbald zu einem Fluch, denn man merkt schnell, dass etwas nicht mit ihr stimmt - lediglich Óscar bemerkt es erst ganz zum Schluss.

Dennoch bleibt dieses Geheimnis zunächst eher im Hintergrund und wird nur manchmal aufgegriffen. Im Vordergrund steht die Jagd nach Geheimnissen völlig anderer Art, denn was Marina und Óscar in einem alten Gewächshaus finden, übersteigt jede Vorstellungskraft. Zafón geht hier oft in den Horrorbereich über, sodass es einige Stellen gab, bei denen ich mich sehr gegruselt habe und die für Menschen mit schwächeren Nerven auch etwas schockierend sein könnten, da er nicht davor zurückschreckt blutige Szenen zu beschreiben. Wer hier also einen Liebesroman erwartet, hat sich definitiv das falsche Buch ausgesucht, denn die Beziehung, die sich zwischen Marina und Óscar anbahnt, bleibt nebensächlich und wird kaum angeschnitten.

Wie schon in Der Schatten des Windes verfolgt Zafón auch in Marina ein bekanntes Schema, sodass einige Geheimnisse leider etwas zu schnell und unüberraschend ans Licht kamen und so auf den ersten Blick eher ernüchternd wirkten. Trotzdem hat das Buch für mich nie an Spannung verloren, was hauptsächlich an dem rasanten Tempo liegt und den vielen gruseligen Szenen, aus denen die Geschichte sich zusammensetzt. Teilweise ging es mir jedoch etwas zu schnell und ich hätte mir gewünscht, dass der Autor sich für manche, komplexere Handlungsstränge mehr Zeit zum erklären und auflösen genommen hätte. Zum Ende hin sind jedoch die anfänglichen Fragen allesamt beantwortet.

Fazit:
Wieder einmal hat Carlos Ruiz Zafón es geschafft, mich mit seinem, wie er selbst behauptet, "persönlichsten" Roman Marina in den Bann zu ziehen und in ein Barcelona voller Mysterien, Geheimnisse und Gefahren zu locken. Mit toll ausgearbeiteten Charaktern, von denen selbst der schlimmste Bösewicht irgendwie faszinierend auf den Leser wirkt, einem - wie immer - grandiosem Schreibstil, viel Gefühl und tollen Dialogen wird dem Leser eine tiefgehende, komplexe Geschichte serviert, die nur selten kleine Schwächen aufweist und spannend und düster bis zur letzten Seiten ist.